Heartfield: "Millionen stehen hinter Hitler"

Rallye „Spurensuche Verbrechen der Wirtschaft 1933-1945“

Ein Projekt der VVN/BdA NRW

 

06.11.07

Zwangsarbeit bis in den Tod - nur wenige entkamen

Aus der Geschichte der Zwangsarbeit bei der IG Farbenindustrie AG von 1941 bis 1945 in Auschwitz

Erfreulich viele Veranstaltungen finden dieses Jahr wieder zur Reichspogromnacht 9. November statt. Was meist vergessen wird: An den Judenverfolgungen profitierten maßgebliche Wirtschaftskreise, und ebenso am Krieg. Dazu veröffentlichen wir hiermit drei Beiträge von Ulrich Sander (VVN-BdA-Bundessprecher), die 1999 in der Zeitung "Unsere Zeit" auf einer Seite zusammengefasst waren.

Aus der Geschichte der Zwangsarbeit bei der IG Farbenindustrie AG von 1941 bis 1945 in Auschwitz 

Von 35 000 Häftlingen der IG Farben wurden 25 000 Opfer der "Vernichtung durch Arbeit"

In Auschwitz-Monowitz ließ die I.G. von Zwangsarbeitern ein Werk für synthetischen Treibstoff und für synthetisches Gummi errichten. Der Standort wurde gewählt, weil sich die I.G. vom nahen KZ Auschwitz und aus der Stadt Oswiecim (Auschwitz), die total geräumt wurde, viele und billige Arbeitskräfte Juden und Polen versprach. Die Zwangsarbeiter wurden von der I.G. bei der SS angefordert, nicht etwa der I.G. aufgedrängt, wie später gern behauptet wurde. Die Nürnberger Dokumente des Kriegsverbrechertribunals NI-1240 und NI-11115 belegen dies. Die I.G. revanchierte sich mit Material zum Ausbau des KZ, denn sie war an einer Kapazitätserweiterung des Lagers interessiert. In NI-15148 wird ein Besuchsbericht von Betriebsleiter Walther Dürrfeld zitiert: I.G.-Werksleitung und Lagerführung besiegelten die gute Zusammenarbeit in einer Besprechung vom 27.3.1941 in Auschwitz und trafen u. a. folgende 'Verabredungen': 1. Das Lager stellt 1941 'etwa 1000 Hilfskräfte und Fachkräfte'. 2. 1942 wird die Lagerverwaltung den 'Bedarf' der I.G. an 'etwa 3000 Häftlingen' decken. 3. Die I.G. zahlt an die SS 'pro Hilfsarbeiter und Tag 3 RM, pro Facharbeiter und Tag 4 RM', die Arbeitszeit beträgt '10-11 Stunden im Sommer, im Winter mindestens 9 Stunden'." In NI 11116 heißt es: "Der Einsatz der Strafgefangenen erfolgt zunächst in Gruppen, die von Kapos beaufsichtigt werden. Jeder Kapo hat ungefähr 20 Mann unter sich." Dieses "Baukommando Buna" war gefürchtet, Abend für Abend brachte es tote Kameraden vom sechs Kilometer entfernten Baugelände mit zurück ins Lager. IG Farben-Oberingenieur Max Faust war mit den Arbeitsleistungen unzufrieden. Im Dezember 1941 stellte er fest, "daß mit freien Polen 50 %, Häftlingen 30 % der Leistung von deutschen Arbeitern erreicht wird" (NI-11130).

Für fünf Millionen Mark baute sich die I.G. mittels Zwangsarbeit ein firmeneigenes KZ am Standort Monowitz. Es war Ende 1942 fertiggestellt und wies bis auf ein Krematorium alle Einrichtungen auf, die für ein NS-KZ üblich waren. Allerdings lehnte die I.G. ab, genügend Krankenbaublöcke zu errichten, "da die IG nicht mehr Krankenblocks haben wolle", der Krankenstand mußte niedrig gehalten werden (NI. 12373). Die Häftlinge wurden zu höchstem Arbeitstempo angetrieben, schwerste Lasten mußten im Laufschritt getragen werden. Nicht wenige Meister prügelten die Häftlinge. Laut Wochenbericht 90/91 aus dem Jahre 1943 (NI-14546) sagte die SS zu, daß durch die IG Farben "alle schwachen Häftlinge abgeschoben werden können, so daß die Gewähr für eine fast volle Leistung, verglichen mit einem deutschen Hilfsarbeiter, herausgeholt werden kann." Dazu stellte der Historiker Werner Renz vom Fritz Bauer Institut laut Frankfurter Rundschau vom 20. Oktober 1998 fest: "Diese Übereinkunft zwischen I.G. und Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamt der SS bedeutete den Tod von Tausenden von Häftlingen."

Renz: "Der, Aufenthalt im Krankenbau wurde im Durchschnitt auf zwei Wochen beschränkt, länger wollte die I.G. für Kranke den vereinbarten Tagessatz an die SS nicht zahlen. Wer nicht ins Lager zur Arbeit entlassen werden konnte, fiel einer Selektion zum Opfer und wurde meist nach Birkenau zur Vergasung überstellt!" Der ehemalige Häftling Robert Elie Waitz sagte laut NI-12373 aus: Der Wunsch der I.G., "nur arbeitsfähige Häftlinge in groesstmoeglichem Umfang zu bekommen, war der Grund, daß in Monowitz Selektionen vorkamen, d. h. dass Kranke und schwache Häftlinge ins Gas nach Birkenau geschickt wurden!"

Laut NI-4827 nahmen Zivilangestellte der IG Farben an den Selektionen teil. Insgesamt nahm die Zahl der Häftlinge von Buna/Monowitz infolge des Arbeitskräftebedarfs ständig zu. Renz: Von den insgesamt 35 000 Häftlingen, die für die I.G. Zwangsarbeit haben leisten müssen, wurden nach den Ergebnissen der Forschung mindestens 25.000 Opfer der von den I.G.-Managern praktizierten 'Vernichtung durch Arbeit'.''

U.S.

Unsere Reise nach Krakau wurde von den Naturfreunden Westfalens organisiert. Das Konzept der Veranstalter sah den Gang auf der Spur von Schindler vor, d. h. der Menschen, die Oskar Schindler mittels seiner List und seiner "Liste" rettete. Deren Weg führte vom Leben in dem Judenviertel Krakaus und dann im von Nazideutschland überfallenen und besetzten Polen ins Ghetto, Arbeitslager, KZ, bis hin nach Auschwitz.

Die Verbrechen sahen wir bisher stets von ihrem Ende her hier aber wurde uns die Dramaturgie des Geschehens sichtbar, die Steigerung vom "normalen" Leben über den Terror bis zum Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende so man zunächst überlebte.

Die Solidarität mit den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern sollte uns derzeit besonders am Herzen liegen. Überraschenderweise ist auch für jeden aufmerksamen Menschen dieses Thema heute in Krakau/Auschwitz allgegenwärtig. Wer es damals überlebte, war irgendwann vorher auch Zwangsarbeiter. So auch die Krakauer Juden und andere Polen, die sich irgend etwas "zu Schulden" kommen ließen. Sie kamen in die Lager unter dem Kommando von Amon Goeth (berüchtigt aus "Schindlers Liste"). Als Juden waren sie vorher ins Ghetto getrieben worden bis März 1943, bis das Ghetto in zwei Tagen und mit einer mörderischen Bilanz von 3 000 Toten aufgelöst wurde. Dann kamen sie nach Belzec oder Auschwitz oder ins Arbeitslager des Sadisten Goeth und später in sein KZ Plazow, von wo sie in die Betriebe gesandt wurden, Tag für Tag.

Sie arbeiteten schwer, einige in Schindlers Emaillefabrik. Sie ist in Krakau noch immer zu sehen, im Gewerbegebiet. An einer Stelle des Films von Steven Spielberg sagt Oskar Schindler zu seinem jüdischen Buchhalter Izak Stern: Die Juden kosten weniger als die Polen (für beide war an die SS zu zahlen) also nehme ich nur Juden. Schindler wird zwischen 1942 und 1944 unermeßlich reich. Man sieht im Film Koffer voll Geld, die er mitnehmen will, doch dann setzt er sein Kapital vollständig ein, um "seine" 1 200 Juden zu retten. Es ist im Film nur einmal von der IG Farben die Rede doch deren Geldkoffer und die anderer Kapitalisten blieben über 1945 hinaus übervoll. Leider werden diese "Geldkoffer" im Film nicht gezeigt.

Wer wissen will, was Zwangsarbeit war, der muß nach Krakau kommen. Hier im Ghetto, im Judenviertel, auf dem Gelände des ehemaligen Arbeitslagers, im Gewerbegebiet bekommen wir zumindest eine Ahnung davon. Die Drehorte von "Schindlers Liste", die Tatorte der Nazis, haben wir besucht. So die Apotheke des Ghettos "Zum Adler", sie war Zentrum der Solidarität, denn ihre nicht-jüdische Belegschaft hielt zu den Juden. Es gibt sie noch, die Apotheke, sie ist heute ein kleines Museum mit authentischen Dokumenten und Fotos vom Leid im Ghetto und der Verfolgung seiner Menschen. Und es gibt Schindlers Fabrik.

In diesen Tagen dachte ich oft an die ,Zeit, da der "Schindler"-Film gezeigt wurde und Aufsehen erregte, ja unter die Haut ging. Die Deutschen waren tief bewegt vom Schicksal der Schindler Juden. Warum sind sie aber nicht bewegt vom Schicksal der anderen überlebenden Juden, Slawen, Sinti und Roma und Zwangsarbeiter? Schindlers Arbeiterinnen und Arbeiter Arten ans Herz, aber die über zehn Millionen anderen überlebenden Zwangsarbeiter aus Ghettos, KZ und Arbeitslagern was ist damit? Rund eine Million von ihnen leben noch. Mit ihnen sollte Solidarität geübt werden.

Wir waren also in Auschwitz. Die Gedenkstätte wird Museum Auschwitz genannt, obwohl es eine authentische Stätte und kein abgelegenes Gebäude ist. Im Stammlager-Museum war ich bereits einmal vor Jahren. Hier scheint zunächst alles unverändert: die Berge von Haaren, Gebissen, Schüsseln, Koffern, Brillen, Kämmen. Ein Himalaja der Überreste von Menschen. Beim Anblick der Kinderkleidung muß ich an meine Enkelinnen denken und mich irgendwo festhalten, ich weiß nicht mehr wo.

Zwangsarbeiter in AuschwitzIm Zentrum des Museums im Stammlager: das Modell der Gaskammern und der Krematorien. Der Ablauf der Tötungsindustrie. Im Mittelpunkt steht der schnelle massenhafte Tod im Gas. Dahinter tritt zurück die "Vernichtung durch Arbeit", die es ebenfalls hunderttausendfach gab. Mir fällt auf: Die Beschriftungen der Tafeln sind nur noch in polnisch, hebräisch und in englisch gehalten. Ein Museumsführer sagt, er wisse nicht warum die deutsche Sprache hier abgeschafft worden sei, vermutlich, weil man hier diese Sprache nicht wünsche. Die Menschen aus dem Land der Täter, sollen sie verschont sein von Fakten in der Sprache der Täter? So frage ich mich jedoch.

Die Deutschen werden hier mal wieder "normal". Wo sie Ausländer sind, sind sie es in englischer Sprache. Und viele Geldgeber fürs Museum, darunter sehr kapitalkräftige, die das teure Museum unterhalten, werden auch die geschont? Das große Kapital und seine Nähe zum Faschismus wird nicht angesprochen. Laut Katalogheften und Ausführungen der Museumsführer haben "die Nationalsozialisten" an den Menschen profitiert gab es da nicht auch IG Farben? Von der I.G. ist im Heft zweimal die Rede, auf den Tafeln nie. Doch die Blechbüchsen sind da, die mit dem Zyklon B aus dem Hause der I.G. und der Degussa. Sie liegen im Block 4, 1. Stock im Museum. Ich erkundige mich nach der IG Farben. Man sagt mir, nicht mittels der Vitrinen, aber im Archiv, Block 23, werde Auskunft darüber gegeben, der Historiker Piotr Setkiewicz stehe zur Verfügung. Auch die Zwangsarbeit, die einst in Auschwitz neben den Krematorien allgegenwärtig war, bleibt im Museum im Stammlager fast nicht wahrnehmbar, anders als später in Birkenau. Doch die Nutznießer der Zwangsarbeit, die Schuldigen, die Industrie, werden nicht, thematisiert. Fotos von Arbeitenden sieht man im Museum nicht eines jedoch von Heinrich Himmler mit einem IG-Farben-Ingenieur, das ist alles.

Relativierung von Auschwitz und Renovierung von Buchenwald

Unsere derzeitige Bundesregierung hat sich erlaubt, mit der Relativierung von Auschwitz und der deutschen faschistischen Vergangenheit den Krieg gegen Jugoslawien zu legitimieren. Was war Auschwitz, was bedeutete es? Wir versuchten es zu ergründen.

Entsetzt, daß diese Bundesregierung, in die wir große Erwartungen setzten, einen Chef hat, der unverblümt den Standpunkt von NS-Tätern verteidigte und der erklärte, daß es seine Aufgabe sei, "die Interessen der deutschen Wirtschaft gegen die Forderungen der Zwangsarbeiter zu schützen", erkundigten wir uns auch danach, was das war Zwangsarbeit.

Wenn wir auch in Auschwitz so manches Zugeständnis an den Zeitgeist spurten, insbesondere was die Schonung für die IG Farben und damit für ihre Nachfolger und die anderen Konzerne anbelangte, so spürten wir dennoch dort nichts von einer Gedenkstättenkonzeption, wie sie gegenwärtig bei uns in Deutschland gegen die überlebenden Opfer durchgesetzt wird Wir wurden in diesen Tagen Zeuge der Fertigstellung der neuen "Gedenkstätte" Buchenwald, die nur noch zum geringen Teil der Würdigung der Opfer faschistischen Terrors und des Widerstandes gewidmet ist, sondern vor allem der Relativierung der NS-Untaten und der Verbrechen der deutschen Kriegswirtschaft dient und sich besonders der Kritik an kommunistischen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern annimmt. Diese Gedenkstättenkonzeption hat Gedenkstättenleiter Dr. Volkhard Knigge kürzlich im "Neuen Deutschland" auf einer ganzen Seite ausgebreitet.

Mir fiel ein alter Gerichtsreport ein. Es war am 20. Dezember 1961 im Landgericht in Karlsruhe: zwei Urteilsverkündigungen. Vor dem Schwurgericht stand der SS-Führer Erich Ehrlinger, vor der Politischen Kammer der Betriebsrat Willi Kumm von den Mannheimer Motorenwerken. Ehrlinger hatte Juden gemordet. Kumm hatte Kollegenfahrten zur Gedenkstätte Buchenwald in der DDR organisiert. Rechtsanwalt Dr. Ammann berichtete später: Die beiden Urteilsverkündigungen fanden fast unmittelbar hintereinander statt, so daß die Presseleute beide besuchen und miteinander vergleichen konnten. Ehrlinger bekam zwölf Jahre Gefängnis, das heißt umgerechnet für jedes von ihm hingemordete Leben etwa dreieinhalb Tage Gefängnis. Kumm erhielt fünf Monate Gefängnis, also für jede Gedächtnisfahrt an die Stätten solcher Opfer zweieinhalb Monate Gefängnis. Und außerdem verlor Kumm seinen Arbeitsplatz.

Warum schreibe ich über diesen Vorfall? Das Erinnern an die Opfer des Faschismus war in dieser Republik lange Zeit weit strafwürdiger als das Verursachen solcher Opfer.

Nachdem jene Kreise, die den Gewerkschafter Willi Kumm verurteilten, auch über das Territorium der DDR herrschen durften, war da immer noch dieses Buchenwald. Sie verfielen daher auf die Idee, einen Dr. Knigge dort zum Aufräumen einzusetzen. Über das Resultat durfte er im ND berichten, ohne daß ihm unangenehme Fragen gestellt wurden. Wir erfahren: Auch Knigge mag keine Kommunisten, schon gar keine, die Widerstand leisteten. Ihr Opfer nennt er "sinnlos". Wir erfahren weiter: Faschismus hat mit Kapitalismus wenig zu tun, "zumal sich Auschwitz rein ökonomisch gar nicht rechnete". Die Leitung des Museums Auschwitz sieht es anders:" Vom Arbeitseinsatz der Häftlinge profitierte die SS, die deutsche Privatwirtschaft und der NS-Staat" und dies weil "niemals der deutschen Wirtschaft eine billigere Arbeitskraft ... zur Verfügung gestellt worden" ist. ("Auschwitz ", Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, 1997, S. 172, 175)

Wenn ein Gedenkstättenleiter aber weder die Täter benennen, noch die Opfer würdigen will, warum mußte er dann Gedenkstättenleiter werden? Er hätte doch auch Redakteur der FAZ oder Verfassungsschutzabteilungsleiter werden können.

Und warum fragt die Mitarbeiterin des ND nicht ein einziges Mal: Dr. Knigge, schämen Sie sich nicht, solche denunziatorischen Giftmixturen wie die über Bruno Apitz und den "Opfertausch" und über andere Menschen auszugießen, die alles einsetzten, um den Mördern in den Arm zufallen? Hätten sich diese Menschen Anfang der dreißiger Jahre mit ihren Warnungen durchgesetzt, die zahllosen Opfer und der Krieg waren der Menschheit erspart geblieben! Auch Buchenwald und das Speziallager, auch die weniger prominenten Opfer, die Knigge glaubt gegen die doch ebenfalls namenlosen Kämpfer aus derpolitischen Arbeiterbewegung ins Spiel bringen zu müssen.

Auch Auschwitz hätte es nicht gegeben, wenn 1933 die Demokraten einheitlich gegen Hitler gehandelt hätten. Aber es setzten sich 1933 Industrie und Banken durch, die eine "Adolf Hitler Spende der deutschen Wirtschaft" begründeten, eine sich milliardenfach auszahlende. Wirtschaftshistoriker sagten: Hitler hat den Krieg verloren, aber die deutsche Wirtschaft hat am Krieg gewonnen. Und heute will sie nicht einmal den Lohn an die überlebenden Opfer nachzahlen.

Unser Außenminister betont ständig "Nie wieder Auschwitz" und legt zugleich für den Zyklon-B-Produzenten Degussa, den Räuber des Zahngoldes von Auschwitz und anderswo, in USA vor Gericht ein gutes, ein " rettendes " Wort ein. Es ist zum Speien!

Ulrich Sander

Nachmittags sind wir in Birkenau. Hier in Birkenau gibt es einen Ein druck von dem, was weltweit als die Hölle von Auschwitz berüchtigt ist. Es führt uns Stanislaw Hantz. Er ist ehemaliger Insasse von Birkenau. Ein Nichjude, der als 17jähriger verdächtigt wurde, einer sozialistischen Gruppe anzugehören. Er wurde schon 1940 eingesperrt, und er war vom Anfang bis zum bitteren Ende in Auschwitz. Von ihm ist ein Buch erschienen, voll von biografischen Erzählungen aus dem Leben und vom Tod in Auschwitz. Beim strömenden Regen ziehen wir durchs Lagergelände von Birkenau, und Stanislaw erzählt und erzählt.

Die Schienen sehen wir, die auf den, Turm zuführen. Dies ist die Rampe. Es gibt nur einen Schienenstrang hinein, dann die Teilung in mehrere Gleise hinterm Turm, das Bild ist bekannt. Hier zu stehen, ist beklemmend. Denn hier war der Platz der Selektionen, letzte Station vor dem Tod. Es gibt nur die Schienen hinein, keine führen hinaus.

Dies war der Platz der Entscheidung der SS-Ärzte: Ins Gas oder vorerst zur Sklavenarbeit.

Jetzt wird uns deutlich: Die Selektion in diesem wie in anderen Vernichtungslagern war für Millionen Juden der Endpunkt, nicht jedoch für die flüchtig von SS-Ärzten zu Arbeitsfähigen erklärten Menschen, vor allem Männer. Die mußten wieder und wieder neue Selektionen über sich ergehen lassen. Ich las ein Dokument der I.G. Farben, sie forderte, daß Kranke, die zu lange im Krankenbau waren, neu selektiert wurden. Wer nicht mitkam, mußte sterben. Das Arbeitspensum, der Profit mußten stimmen. (Siehe der Beitrag auf dieser Seite.)

Doch wo arbeiteten die eigentlich, die noch nicht starben? Die arbeiteten in Monowitz bei den I.G. Farben und bei Krupp und anderen Konzernen, die sich in Auschwitz angesiedelt hatten, im Bergbau, in der Landwirtschaft. Doch Buna/Monowitz gehört heute nicht mehr zur Gedenkstätte. Von diesem und anderen Industriestandorten ist ebenso wenig zu erfahren wie von der Deutschen Bank, die den Aufbau von Auschwitz finanzierte, oder von Krupp und Degussa. Der Zeitgeist? In Polen werden deutsche Konzerne nicht mehr kritisiert. Man sagt, im Hause des Henkers wird vom Strick nicht gesprochen doch warum auch im Hause des Gehenkten?

Die Dokumente aus den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen mit dem Kürzel NI-xxx sprechen hingegen eine klare Sprache. Sie weisen nach: Die IG Farben entschied über Leben und Tod der Lagerinsassen. Sie bestimmte die Bedingungen Lebensbedingungen kann man es wohl nicht nennen des Lagers wie des Krankenbaus. Von den Regeln, die sie aufstellte, sind zahlreiche Menschen wie von einem Todesurteil getroffen worden.

Wir sprechen mit einem Sanitäter, der später Arzt wurde. Dr. Edwin Opoczynski aus Krakau war Häftling von 1939 bis 1945. Unzählige Lager lernte er kennen, mußte sie durchleiden. Am längsten arbeitete er im Krankenbau in Birkenau. Er weiß, was Selektionen bedeuten. Seine Eltern waren Juden, er wurde als Jude verfolgt. Doch er ist ohne Religiosität. Er hält Religion für einen Fehler. Der 82jährige Arzt sagt, er ist Mensch. Und er will Menschen, vor allem jungen Menschen sagen, was Menschen den Menschen antun konnten. Damit es nie wieder geschieht.

Ulrich Sander