18.02.09
Des Generals partiale Schlacht
Deutsche
Gesellschaftsgeschichte, zerlegt von Hans-Ulrich Wehler - Die DDR
lediglich als Kontrast angemerkt
Von Jürgen Meier
In der Manier eines Generals der "privatwirtschaftlichen
Organisation des Wirtschaftslebens", das von ihm auch locker
Kapitalismus oder "freie Marktwirtschaft" genannt wird,
tingelt Hans-Ulrich Wehler als milde lächelnder Freund und
Vertreter der ideologischen Einheitsfront der C4- und C3-Offiziere
durch die Talkshows der Fernsehanstalten. Als ausgewiesener
Positivist weiß er, wer seine ideologischen Feinde sind: Hegel und
Marx. Denen wünscht er Verdammnis. Denn die "Totalität
vergangener Geschichte" lasse sich "auf der Linie des
verheißungsvollen Anspruchs von Hegel und Marx niemals
erfassen". Erkenntnistheoretisch sei "nur Partialwissen möglich."
Hingegen blickt ethische Weltbetrachtung und Lebensorientierung
stets konkret, also den historischen Bedingungen entsprechend, auf
das Ganze, auf die Totalität des menschlichen Seins. "Das
Wahre ist das Ganze", schrieb Hegel, "das Ganze aber ist
nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen." Wer
glaubt, sich in Faktizitäts-Intellektualismus flüchten zu können,
negiert nicht nur die Erkennbarkeit des gesellschaftlichen Seins,
sondern gesteht, wie im Falle des Generals, dass der Kapitalismus
als historischer Höhe- und Endpunkt über keine Ethik verfügt, da
er lediglich partikulare Interessen im Arbeits- und Lebensprozess
der Menschen akzeptiert.
Der andere Mensch ist dem Menschen in der
"privatwirtschaftlichen Organisation" nicht als Mensch ein
Bedürfnis, sondern als Mittel zum Zweck des eigenen Erfolgs und
Ansehens. Konkurrenz ist hier "das sich vollendete Wesen"
in Arbeit und im Leben. Hier braucht es keine Ethik, sondern Generäle,
die ihre Elitetruppen in die ökonomische Schlacht gegen die globale
Konkurrenz sowie politisch aktuell in die militärische um
Afghanistan und anderswo führen.
Wie schreibt General Wehler: "Unstrittig ist, dass der
amerikanische Krieg in Vietnam belebende Impulse" der
westdeutschen Ökonomie vermittelte, "wenn auch nicht im
gleichen Ausmaß wie der Korea-Boom der 50er Jahre". Die
Wachstumsraten lägen bis zum Anfang der 70er Jahre über vier
Prozent, der Export erreichte 23 Prozent des Bruttosozialproduktes.
Das "Wohlstandswunder" der Bundesrepublik Deutschland
schwamm also auf den Blutlachen unterdrückter Völker und Nationen.
Für einen Partialdenker kein Problem! Der Protest der 68er gegen
den Vietnamkrieg, so der General, "trug alle Züge eines pubertären
Überschwangs". "Auch mit dem Vietcong, der von Ho Chi
Minh gesteuerten kommunistischen Guerillabewegung", hätten
sich die 68er-Rebellen in ihrem "Drang nach
Heiligsprechung" verführen lassen. Und Marcuse habe mit seinem
"eindimensionalen Menschen" in "selten perfider
Weise" diesen "romantischen Überschwang" unterstützt.
"Wir wissen, dass Zerstörung der Preis des Fortschritts
ist", hatte Marcuse in seinem Buch geschrieben. Zeigen Korea
und Vietnam nicht, dass er trefflich analysieren konnte? Die
Solidarität mit dem vietnamesischen Volk, das sich gegen
Napalmbomben der USA schließlich befreien konnte, förderte ebenso
wie die Kritik des "Wirtschaftswunders" oder
"Konsumterrors" im eigenen Land die Befreiung des Denkens
vieler Menschen meiner Generation, die sich nicht nur von dem
"Mief unter den Talaren", sondern auch von der Adenauer-Ära
verabschieden wollten. Anders als Adenauer, der das KPD-Verbot, die
Wiederbewaffnung und den NATO-Beitritt forcierte und den der
C4-General Wehler als Mittelpunkt der BRD bezeichnet, ohne dessen
"Entscheidungs- und Durchsetzungsfähigkeit" der nahtlose
Anschluss der Aktivisten der Nazi-Diktatur nicht funktioniert hätte,
wurden in Sachsen, wie Wehler vermerkt, 1094 Richtern und Staatsanwälten
nur 240 noch weiterbeschäftigt sowie von 10 552 Lehrern 70 Prozent
entlassen und durch junge Neulehrer ersetzt.
Hans-Ulrich Wehler - ihm ist dies vermutlich nicht bewusst -
skizziert die Kontinuität des westdeutschen Kapitalismus trefflich.
Anders als in der DDR, wo versucht wurde, diese Kontinuität zu
beenden, stützte sich der Adenauer-Staat in Justiz, Verwaltung und
Kultur, aber auch in den Industriebetrieben auf treue Diener
Hitlers. "Der Rückblick auf die Wirtschaft enthüllt die
erstaunliche Kontinuität der Marktwirtschaft." Nur ein knappes
Viertel der "Spitzenfiguren" der faschistischen
Kriegswirtschaft "kehrte nicht auf seine alte oder eine äquivalente
Position zurück. Die allermeisten Vorstandsangehörigen der frühen
Wirtschaftswunderjahre hatten daher schon vor 1933 ihre berufliche
Stellung innegehabt." Wen wundert es da, wenn die
68er-Demonstranten riefen: "Kapitalismus führt zum Faschismus!
Kapitalismus muss weg." Sicher war das keine treffliche
Analyse. Aber stimmt es nicht, dass Krupp, Siemens und wie sie alle
hießen, trefflich an Hitlers Kriegen und Zwangsarbeitern
profitierten?
Hans-Ulrich Wehler, wohlerzogen, vergisst nicht, sich bei
"Renate" zu bedanken, die "seit 50 Jahren immer Verständnis
für ihren Mann am Schreibtisch aufgebracht" hat. Renate
lieferte dem General also die Schnittchen, die ihm die Angriffe auf
die Dialektik und den dialektischen Materialismus existenziell ermöglichten.
Denn auch ein General muss essen und trinken. Ob Renate die Häppchen
mit Käse von Lidl belegte und damit einen Konzern unterstützte,
der seine Angestellten wie Sklaven überwachte, wissen wir und
wahrscheinlich der geistig so in den Angriffskrieg verstrickte
General nicht. Sein "Feldzug" gegen die Denker der Aufklärung
und des Humanismus führt er, darin besteht die Raffinesse des
intelligenten Vertreters seiner Zunft, natürlich nicht gegen Lidl
oder die Deutsche Bank - warum auch? -, sondern gegen die DDR, die
weder Lidl noch einen Siemens-Korruptionsskandal zustande gebracht
hat. Erstaunlich, dass der General schließlich doch seiner eigenen
Konzeption treulos wird und ein Urteil über das Ganze abgibt. So
sammelte er nicht nur Fakten über Fakten, deren Richtigkeit hier
gar nicht in Abrede gestellt werden soll, sondern kommt zu der
Gesamteinschätzung, dass "DDR-Geschichte keine gleichwertige
Behandlung mit der Bundesrepublik eingeräumt" werden müsse.
Sie könne lediglich als "Kontrast" herangezogen werden,
u. a. weil eine "Monopolelite" der DDR in ihrer Ausübung
des Monopols auf Wahrheit "die politische Religion des
Marxismus-Leninismus für sich in Anspruch nahm."
Natürlich versprühte die DDR-Partei- und Staatsführung nicht
den Geist der Dialektik. Auch Marx-Zitate wurden häufig nur im
Munde geführt, um die konkrete Analyse einer konkret schwierigen
Situation zu verhindern. Doch gleichgültig, ob durch die "Rote
Armee" oder aus eigener Kraft. Jedenfalls sollte im Osten
Deutschlands nach 1945 eine Gesellschaft entstehen, die den
Faschismus, aber auch die Ausbeutung von Menschen durch Menschen unmöglich
machen sollte. Ein Versuch, der - dafür bringt der General viele
richtige Fakten - scheiterte.
Was Wehler verschweigt: Der Sozialismus, den der General so sehr
hasst, ist eigentlich ganz einfach, wie Brecht sagte, da er die
ohnehin vergesellschaftete Produktion lediglich aus ihren
partikularen Interessen in gesellschaftliche durch breiteste
Demokratie zur Entfaltung bringen muss. Aber er ist, wie die
Geschichte beweist, schwer zu machen, woran ideologische Generäle
wie dieser Bielefelder Historiker nicht unerheblich beteiligt sind.
Der Sozialismus, schrieb Lukacs, "unterscheidet sich ›bloß‹
darin von den anderen Gesellschaftsformen, dass in ihm die
Gesellschaft als solche, die Gesellschaft in ihrer Totalität zum
alleinigen Subjekt der Aneignung der Mehrarbeit wird, dass diese
deshalb aufhört, ein differenzierendes Prinzip der Beziehungen von
Einzelmenschen zu Einzelmenschen, von einzelnen sozialen Gruppen zu
anderen zu sein".
Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd.5:
Bundesrepublik und DDR 1949-1990 C.H. Beck, München 2008. XVIII,
529 S., geb., 34,90 EUR.
Mit freundlicher Genehmigung von Neues
Deutschland vom 14.02.2009
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