25.05.2010
Von den "Verbrechen der Wehrmacht" zu
"Verbrechen der Wirtschaft"
Eine notwendige Erweiterung der
Perspektive in der Geschichtspolitik
Dr. Ulrich Schneider
In den 90er Jahren wurde die zeitgeschichtliche Debatte in der
Bundesrepublik Deutschland durch eine Ausstellung geprägt, die
unter dem Titel "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht
1941 bis 1944" eines der ältesten Tabus in der deutschen
Geschichtsdarstellung in Frage stellte, die angeblich "saubere
Wehrmacht", die mit den Kriegsverbrechen, derer der deutsche
Faschismus schon 1945/47 angeklagt wurde, nichts zu tun habe.
Die gesellschaftlichen Grundlagen dieses Tabus lassen sich
schnell erklären: Es waren gleichermaßen die Notwendigkeit der
Rehabilitierung der faschistischen Wehrmacht vor dem Hintergrund,
dass man mit einem wichtigen Teil des Personals die neue Bundeswehr
aufzubauen gedachte und die gesellschaftliche Integration der
Millionen Angehörigen der faschistischen Wehrmacht in die "selbst-entnazifizierte"
bundesdeutsche Gesellschaft. Zwar waren sich politisch
Verantwortliche und die Kriegsgeneration in den 40er und 50er Jahren
darüber im Klaren, dass die faschistische Wehrmacht aktiv an der
Durchsetzung der imperialistischen Zielsetzung mitgewirkt hat. Auf
der Basis von Verdrängung und ideologischen Hilfskonstruktionen
("Wehrmacht als Ort des Widerstandes") gelang es jedoch,
im gesellschaftlichen Bewusstsein das Bild der Wehrmacht zu
verändern. Dieses Angebot wurde von den ehemaligen Angehörigen der
Wehrmacht, vom Mannschaftsdienstgrad bis zum Generalsrang, gerne
aufgenommen - insbesondere, da mit dieser historischen
Rehabilitierung auch materielle Leistungen nach dem
Kriegsopferentschädigungsgesetz verbunden waren.
Auf dieser Grundlage überlebte das Tabu der "sauberen
Wehrmacht" bis in die 80er Jahre, bis es endlich in den Kreisen
nachgeborener Historiker und Politikwissenschaftler zu einer
Aufarbeitung kam, die in der oben genannten Wanderausstellung
kulminierte. Und die Intensität der geschichtspolitischen
Auseinandersetzung um die Ausstellung, die überraschend großen
Besucherzahlen, die Aufmärsche von Militaristenverbänden und
Neonazis gegen die Ausstellung, der Streit um die Autentizität der
Bilder, die Vorwürfe der Fälschung und die letztliche Konsequenz
der Überarbeitung machen deutlich, wie stark dieses Tabu die
alltagsgeschichtliche Wahrnehmung der Gesellschaft immer noch
prägte.
Nach dieser öffentlichen Auseinandersetzung, die noch durch die
Goldhagen-Debatte um die Beteiligung "ganz normaler deutscher
Männer" am eliminatorischen Antisemitismus verstärkt wurde,
hätte man meinen können, dass es in der geschichtspolitischen
Aufarbeitung der faschistischen Verbrechen keine Tabus oder
"blinden Flecken" mehr geben könnte. Dem ist aber nicht
so. In der Tat gibt es noch einen Tabubereich, der weniger lautstark
diskutiert wird, der jedoch mindestens ebenso wichtig für das
Verständnis der Etablierung und Funktionsfähigkeit faschistischer
Herrschaft in Deutschland wie die Wehrmacht ist, nämlich die Rolle
der Wirtschaft für die Errichtung und Etablierung der
faschistischen Herrschaft und die aktive Beteiligung von
Wirtschaftsführern und Unternehmen an der Umsetzung der
faschistischen Politik in allen ihren Schattierungen, als
Stichwortgeber faschistischer Kriegsplanungen, als Akteuere und
insbesondere als Profiteuere.
Es kann hier nicht der Platz und die Aufgabe sein, die Rolle der
Wirtschaft im Faschismus im Einzelnen nachzuzeichnen. Dies findet
sich in den Dokumentationen, Beiträgen und Aufsätzen dieses
Bandes. Doch es sei auch an dieser Stelle darauf verwiesen, dass
ohne die massive Unterstützung der Großindustrie (das populärste
Beispiel ist sicherlich Fritz Thyssen "I paid Hitler"),
der preußischen Großgrundbesitzer und der Großbanken der Weg der
NSDAP und der faschistischen Banden zur Machtübernahme und die
Etablierung der politischen Herrschaft nicht möglich gewesen wäre.
Die politische Unterstützung durch Denkschriften und andere Formen
der Einflussnahme auf die Politik, die finanzielle Unterstützung
durch die Großspenden u.a. dem Kohlepfennig der rheinischen
Schwerindustrie und die gesellschaftliche Unterstützung durch
gemeinsame Auftritte in der Harzburger Front und bei anderen
Gelegenheiten, waren eine zentrale Voraussetzung zur Durchsetzung
der NSDAP als Instrument der faschistischen
"Krisenlösung".
Diese Fakten waren bereits 1933 bekannt. Die berühmte
Fotomontage von John Heartfield "Der Sinn des
Hitlergrußes" aus der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung brachte
dieses Verhältnis optisch auf den Punkt. In der antifaschistischen
Agitation zum Ende der Weimarer Republik wurde diese Abhängigkeit
angeprangert, ohne schon über die historischen Dokumente zu
verfügen, die seit der Befreiung von Faschismus und Krieg im Mai
1945 vorlagen.
Aus diesem Grunde war es 1945 auch völlig unstrittig, dass bei
der politischen Ausschaltung der Verantwortlichen für die
faschistischen Verbrechen und deren juristischen Verfolgung die
Wirtschaft und ihre Repräsentanten im gleichen Atemzug mit
Vertretern des Militärs oder anderer gesellschaftlicher Eliten
genannt wurden.
Ein deutlicher Beleg für diese Einschätzung sind die
OMGUS-Akten von 1947. OMGUS (Office of Military Government for
Germany (U.S.) ersetzte ab dem 29. September 1945 das US Group
Control Council (USGCC) der amerikanischen Armee, welches bereits im
August 1944 in London geschaffen worden war. Zu den Aufgaben der
OMGUS-Mitarbeiter gehörte die Entnazifizierung und die Beschaffung
detaillierter Informationen über die Verstrickungen der deutschen
Wirtschaft in die Nazi-Herrschaft.
Drei große Untersuchungsberichte wurden vorgelegt:
"Ermittlungen gegen die Deutsche Bank", "Ermittlungen
gegen die Dresdner Bank" und "Ermittlungen gegen die I.G.
Farbenindustrie AG". Diese umfangreichen Dokumentationen (auch
"OMGUS-Akten" genannt) belegten deren Einbindung in das
faschistische Regime und dienten bei den Nürnberger Prozessen als
Beweismaterial insbesondere gegen den IG Farben - Konzern.
Material war also hinreichend vorhanden, mit dem die Rolle und
Verantwortung von Industrie und Wirtschaftsführern nachgewiesen
werden konnte. Folgerichtig wurden in den ersten Wochen alliierter
Besatzungszeit verschiedene Wehrwirtschaftsführer und andere
Verantwortliche von Rüstungsbetrieben und Banken durch die
Besatzungsmacht verhaftet und in Internierungslager verbracht. Sie
sollten greifbar sein, wenn die politische und juristische
Aufarbeitung der faschistischen Massenverbrechen beginnen würde.
Doch mit dem politischen Wechsel in den USA und dem
anschließenden Wandel der west-alliierten Besatzungspolitik unter
General Lucius D. Clay veränderte sich auch der Umgang mit
Unternehmern und Wirtschaftsführern in den Internierungslagern. Nur
diejenigen, die in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen -
Nachfolgeprozessen angeklagt werden sollten, blieben interniert.
Viele andere wurden "auf Ehrenwort" entlassen oder als
"unverzichtbare Fachleute" wieder in ihre ehemalige
Funktion eingesetzt - sehr zum Leidwesen der Beschäftigten in den
betreffenden Konzernen, von denen sich viele einen Neuanfang ohne
die ehemaligen Kapitalisten vorgestellt hatten.
Trotz dieser Rahmenbedingungen fanden die Prozesse gegen
Vertreter der Wirtschaft in Nürnberg noch statt. Im April 1947
begann der Flick-Prozess (Fall V), im August 1947 der
IG-Farben-Prozess (Fall VI) und im Dezember 1947 als Fall X der
Krupp-Prozess.
Die Anklagepunkte waren im Kern vergleichbar, wenngleich die
jeweilige Beteiligung an den Verbrechen unterschiedlich war. Es ging
um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit:
Zwangsarbeit und Deportation zur Sklavenarbeit, um Kriegsverbrechen
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Plünderung in besetzten
Gebieten, um die Mitgliedschaft in Himmlers Freundeskreis und die
Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen (NSDAP, SS etc.).
Die Dimension der Verbrechen fassten im Falle von Flick die
Ankläger mit den Worten zusammen, dass "Zwangsarbeiter und
die Kriegsgefangenen in den Ruhrbergwerken des Flick-Konzerns unter
schrecklichen Bedingungen ausgebeutet wurden und dass Krankheit und
Tod in ungeheurem Ausmaß die Folgen dieser Bedingungen waren. Auch
ist es offensichtlich, dass in allen Betrieben des Flick-Konzerns
besonders schlechte Bedingungen herrschten; in vielen Fällen waren
die Unterkünfte elend, die Arbeitszeit übermäßig lang; Angst und
Freiheitsentziehung, körperliche Leiden und Krankheit,
Misshandlungen aller Art, darunter Auspeitschungen, waren an der
Tagesordnung." (Der Fall V, zitiert nach http://de.wikipedia.org/wiki/Flick-Prozess).
Dennoch wurden nur drei der sechs Angeklagten verurteilt, Friedrich
Flick selber zu sieben Jahren Haft, von denen er nur wenige Jahre
verbüßte.
Im IG Farben-Prozess saßen 23 Angeklagte vor Gericht, unter
ihnen als Hauptangeklagter Carl Krauch, der Aufsichtsratsvorsitzende
der IG Farben und gleichzeitig Hermann Görings direkter Berater und
der führende Mann der gesamten chemischen Industrie war. Görings
Vier-Jahres-Plan zur wirtschaftlichen Vorbereitung des Krieges war
zu 75 Prozent ein Farben-Projekt. IG-Farben entwickelte seine
eigenen Pläne für die Annektion der chemischen Industrie in den
von Deutschland zu überfallenden Ländern, und zwar gleichzeitig
mit den militärischen Plänen, und setzte sie sofort in Aktion,
nachdem die einzelnen Eroberungen abgeschlossen waren. Die Beratung
der IG Farben mit den militärischen und politischen Führern
überstiegen bei weitem das Gebiet der technischen Angelegenheiten
und waren äußerst aggressiv und in jeder Beziehung auf Krieg
gerichtet. Selbst bezogen auf das Vernichtungslager Auschwitz sprach
der Aufsichtsrat von einer "segensreichen Freundschaft mit der
SS".
Trotz einer erdrückenden Fülle von Dokumenten und
Zeugenaussagen kam es in diesem Prozess nach einer
Mehrheitsentscheidung zu Urteilen, die - wie ein zeitgenössischer
Beobachter formulierte - "einen Hühnerdieb erfreut"
hätten. In neun von zwölf Anklagepunkten wurden alle Angeklagten -
mit teilweise abenteuerlichen Begründungen - freigesprochen. Einzig
wegen der "Verwendung und vorschriftswidrige Behandlung von
ausländischen Zwangsarbeitern und Häftlingen aus
Konzentrationslagern im 'Buna-Werk Auschwitz' und in der
'Fürstengrube'" und für "'Raub und Plünderung' in
Polen, Norwegen und in den Fällen 'Francolor', 'Schiltigheim' und
'Farbwerke Mühlhausen'" wurden im Juli 1948 Haftstrafen
ausgesprochen. Der politische Wille war offensichtlich, die
Verantwortlichen des IG Farben-Konzerns von ihrer Verantwortung zu
entlasten.
Die Tatsache, dass die meisten von ihnen in den 50er Jahren in
der Bundesrepublik wieder an den Schaltstellen der chemischen
Industrie saßen, macht deutlich, wie weit hier politische und
Kapitalinteressen bereits eine "unheilige Allianz" gegen
die historische Wahrheit eingegangen sind.
Etwas weniger Glück hatte Alfried Krupp von Bohlen und Halbach,
dem gleichzeitig der Prozess gemacht wurde. Sechs der Angeklagten
wurden für schuldig befunden, sich an Raub und Plünderung fremder
Vermögenswerte beteiligt zu haben. Alle bis auf den Angeklagten
Karl Pfirsch wurden wegen der Beteiligung am Zwangsarbeiterprogramm
mit Zehntausenden von Ostarbeitern verurteilt. Auch der enge
Zusammenhang zwischen Vernichtungspolitik und KZ - Häftlingseinsatz
in einem nahe Auschwitz gelegenen Werk wurde von den Richtern
benannt: "Millionen von Gefangenen wurden in KZs
zusammengetrieben und dann in Fabriken und Gruben oder auch auf
raschere Weise in Gaskammern in den Tod getrieben". Krupp
selber wurde zu 12 Jahren Haft und zur Einziehung seines gesamten
Vermögens verurteilt.
Auch deutsche Antifaschisten zogen, soweit sie unmittelbaren
Einfluss auf die Gestaltung des politischen Neuanfangs nehmen
konnten, Konsequenzen, die der politischen Verantwortung der
Wirtschaft und Banken für die Verbrechen des deutschen Faschismus
Rechnung trugen. Die "Beseitigung des Nazismus mit seinen
Wurzeln" hieß in Hessen beispielsweise, den Artikel 41 in die
Landesverfassung aufzunehmen, der die Sozialisierung der
Schlüsselindustrie und die staatliche Verantwortung für Banken,
Versicherungen und Energiewirtschaft beinhaltete. Diese Forderungen
wurden von CDU, SPD und KPD gemeinsam getragen, war man sich doch
gemeinsam der Verantwortung der Großindustrie und Großbanken für
die Errichtung und das Funktionieren der faschistischen Herrschaft
bewusst.
Doch bereits Ende der 40er Jahre war auch diese Gemeinsamkeit der
politischen Erkenntnis der Verantwortung der Wirtschaft vorbei. Der
Hintergrund dieser Entwicklung war in der beginnenden
Restaurationspolitik in den Westzonen zu finden. Kalter Krieg,
Ost-West-Konflikt und Spaltungspolitik hatten natürlich auch
Auswirkungen auf das öffentliche Geschichtsbild über den
Faschismus, seine Verbrechen, die Förderer und Nutznießer. Als es
darum ging, die Bundesrepublik antikommunistisch auszurichten, da
waren natürlich alle gesellschaftlichen Gruppen, auch die, die
durch die Beteiligung an faschistischen Verbrechen diskreditiert
schienen, wieder Verbündete.
Wirtschaftsführer des IG Farben-Konzerns wirkten mit bei der
"Zerschlagung" der alten Strukturen, der Geschäftsführer
der Flick-Gruppe verhandelte mit den Alliierten, dass entscheidende
Geschäftsbereiche nicht aus der Hand gegeben werden mussten und
Krupp wurde durch Entscheidung des amerikanischen Hohen Kommissars
für Deutschland John J. McCloy am 31. Januar 1951 begnadigt und
vorzeitig aus der Haft entlassen. 1953 erhielt er zudem mit dem
sogenannten "Mehlemer Vertrag" sein gesamtes Vermögen -
unter geringen Auflagen - zurück. Damit wurde ein deutlich
sichtbares Zeichen gesetzt, dass das Thema "Entnazifizierung
der Wirtschaft" politisch von der Tagesordnung verschwunden
war. Die Tatsache, dass solche Mittäter, wie der
Nazi-Wirtschaftsminister und Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht
nicht nur zum "Mitläufer" degradiert wurde, sondern
selbst noch Ansprüche erhob, als "Verfolgter des
Naziregimes" zu gelten, verdeutlicht die Absurdität der
geschichtspolitischen Entwicklung.
Insbesondere in der Zeit des "Wirtschaftswunders" gab
es geschichtspolitisch keine Veranlassung, an die Verantwortung der
Großindustrie für die Verbrechen des deutschen Faschismus zu
erinnern. Erst die beginnende Auseinandersetzung mit der
verdrängten faschistischen Vergangenheit Ende der 60er Jahren durch
die Studentenbewegung und außerparlamentarische Opposition brachte
das Thema wieder auf die Tagesordnung.
In einer Debatte der marxistischen Zeitschrift
"Argument" Ende der 60er Jahre über "Primat der
Politik oder Primat der Ökonomie" wurde zum ersten Mal wieder
ausführlich über die wirtschaftliche Dimension der faschistischen
Vernichtungspolitik diskutiert. Damit war die Rolle der Unternehmen
als Teil des faschistischen Systems selber zum Gegenstand geworden.
Einfluss auf die Debatte hatte auch das 1974 veröffentlichte
Grundlagenwerk von George W. F. Hallgarten und Joachim Radkau
"Deutsche Industrie und Politik von Bismarck bis heute".
Die Deutsche Bank setzte 1976 nach Hallgartens Tod beim Verlag
durch, dass einige Passagen des Werkes über die Rolle der Deutschen
Bank im Vorfeld des zweiten Weltkrieges sowie über die Rolle von
Hermann Josef Abs beim Abkommen von 1952
("Wiedergutmachung" für Israel) geschwärzt werden
mussten. Auch anderen Autoren, die die Verantwortung von
Industriellen und Großbetrieben für faschistische Verbrechen
anprangerten, mussten damit rechnen, dass die juristische Keule
geschwungen wurde. Der Schriftsteller F.C.Delius wurde in einem
langjährigen Rechtsstreit gezwungen, in seinem Buch "Unsere
Siemens-Welt", das als "Anti-Festschrift" zum
125jährigen Siemens-Jubiläum erschien, Schwärzungen vorzunehmen.
Der Verfasser selber konnte erleben, dass der IG Farben-Nachfolger
Behringwerke AG Marburg juristische Konsequenzen androhte, als er
Dokumenten über deren Beteiligung an Menschenversuchen im KZ
Buchenwald veröffentlichte. Insbesondere die Kritik an persönlich
an Verbrechen beteiligten Repräsentanten der Großindustrie, wie
Friedrich Flick, Hermann Josef Abs, Hanns Martin Schleyer führte
einerseits zu juristischen Auseinandersetzungen, andererseits aber
auch zu einer größeren Sensibilität der Öffentlichkeit für die
Rolle der Industrie und der Großbanken im Faschismus.
Eine immer größeren Zahl von Veröffentlichungen kritischer
Historiker über die Rolle von Unternehmen und Unternehmern im
Faschismus, bei denen insbesondere Otto Köhler mit zahlreichen
profunden Veröffentlichungen für Ärgernissen sorgte, stand eine
zunehmende Abwehrhaltung der Betriebe selber diesen Themen
gegenüber. Betriebsarchive blieben für unabhängige Historiker
verschlossen. Teilweise beauftragten Unternehmen ihnen genehme
Historiker (die dann später oftmals mit gutdotierten Posten als
"Hausarchivar" belohnt wurden) eine entsprechende
Hausgeschichte zu verfassen. Exemplarisch kann dies an zwei
Veröffentlichungen zur IG Farben - Geschichte nachgezeichnet
werden. 1986 legte Otto Köhler mit dem Buch "... und heute die
ganze Welt. Die Geschichte der IG Farben und ihrer Väter." (Hamburg
- Zürich 1986) eine kritische Unternehmensgeschichte vor, in
der ausgehend von den Dokumenten des IG-Farben-Prozesses (Fall VI)
die Rolle des Konzerns im Faschismus nachgezeichnet wurde. Vier
Jahre später antwortete der Konzernnachfolger mit dem Buch von
Gottfried Plumpe: "Die I.G. Farbenindustrie AG - Wirtschaft,
Technik und Politik 1904-1945." (Berlin 1990). Plumpe
durfte sich darin im Sinne des Konzerns auch über "die
politische Rolle der I.G. in der Geschichte, über die noch immer
viele Mythen und Legenden existieren", auslassen, so der
Klappentext des Buches.
Es war in dieser Hinsicht schon eine Ausnahme - und insbesondere
dem politischen Einfluss der Gewerkschaft IG Metall und ihrer
Vertrauensleute im Konzern geschuldet, dass der Volkswagen-Konzern
Ende der 80er Jahre Hans Mommsen damit beauftragte, die Rolle des
Konzerns und der Familie Piech im Faschismus kritisch zu
untersuchen. Die Dokumentation wurde 1996 veröffentlicht, wobei
jedoch der damalige Vorstandschef Ferdinand Piëch wenig Interesse
für dieses Werk aufbrachte, wie Hans Mommsen im Nachhinein
beklagte. (Mommsen Hans/ Grieger Manfred, Das Volkswagenwerk und
seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996)
Einen tatsächlichen Aufschwung kritischer
Unternehmensgeschichtsschreibung unter Einbeziehung der NS-Zeit
erlebte man Mitte der 90er Jahre im Zusammenhang mit der
öffentlichen Debatte um die Zwangsarbeiterentschädigung. Die durch
Sammelklagen juristisch unterfütterten Forderungen nach
Entschädigung ehemaliger Sklavenarbeiter nicht allein aus den
Rüstungsunternehmen brachten das Thema "Rolle der Wirtschaft
und der einzelnen Unternehmen im Faschismus" erneut auf die
Tagesordnung.
Angestoßen durch die Forderungen nach Entschädigung und den
Vorschlag, einen Fond einzurichten, in den Unternehmen und Staat
einzahlen, um die Ansprüche kollektiv abzudecken, begannen sich
unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, Geschichtswerkstätten,
Historiker von Regionalarchiven, universitäre Forschungsgruppen und
die kapitalnahe "Gesellschaft für Unternehmensgeschichte
e.V." (GUG) aktiv mit dem Einsatz von Zwangsarbeitern in
verschiedenen Branchen und Unternehmensteilen zu beschäftigen. Es
würde den Rahmen diese Zusammenfassung sprengen, die öffentliche
Debatte um Zwangsarbeit und Entschädigung hier auch nur ansatzweise
nachzeichnen zu wollen. (Neben zahlreichen weiteren
Veröffentlichungen geben folgende Titel einen guten Überblick
über die Auseinandersetzung und die politischen Folgen: Ulrike
Winkler (Hg.) Stiften gehen, NS - Zwangsarbeit und
Entschädigungsdebatte, PapyRossa-Verlag, Köln 2000, Rolf Surmann/
Dieter Schröder (Hg.), der lange Schatten der NS-Diktatur, Texte
zur Debatte um Raubgold und Entschädigung, UNRAST Verlag, Hamburg/
Münster 1999) Das Ergebnis dieser Initiativen war eine große
Zahl von zumeist regionalen Studien zur Zwangsarbeit und
Dokumentationen, die das persönliche Schicksal von Frauen und
Männern, die als Sklavenarbeiter im Deutschen Reich eingesetzt
waren, anschaulich belegten. Begegnungen mit Überlebenden und damit
Zeitzeugen dieser Verbrechen fanden ihren öffentlichen
Niederschlag. Damit wuchs auf der einen Seite die gesellschaftliche
Erkenntnis, dass Sklavenarbeit, d.h. die Ausplünderung von
KZ-Häftlingen, Deportationen zur Zwangsarbeit und die Ausbeutung
von angeworbenen ausländischen Arbeitskräften ein Massenphänomen
der deutschen Wirtschaft war, dem sich so gut wie kein Unternehmen
entzogen hatte. Ende 1999 wurde im "Neuen Deutschland" und
in anderen Publikationen eine Liste von 2500 deutschen Unternehmen
veröffentlicht, in denen Zwangsarbeiter eingesetzt waren. Es gab
nicht einen Fall, in dem ein Unternehmen gerichtlich versucht
hätte, die Nennung auf dieser Liste infrage zu stellen, so dass
davon auszugehen ist, dass diese Auflistung korrekt ist.
Auf der anderen Seite begannen die Unternehmen selber, ihre
Firmengeschichte aufzubereiten und eine "Sprachregelung"
bezüglich des Zwangsarbeitereinsatzes und anderer Formen der
Eingebundenheit in die faschistischen Massenverbrechen zu suchen.
Einzelne Unternehmen versuchten an die öffentliche Resonanz des
Films "Schindlers Liste" anknüpfend darauf hinzuweisen,
dass es die Zwangsarbeiter in ihrem Unternehmen doch gar nicht so
schlecht gehabt hätten. Hans Mommsen beschrieb die Bereitschaft,
sich mit der Geschichte zu beschäftigen, in einem Interview im
Dezember 2007 so: "Es gehörte allmählich zum guten Ton, dass
ein Unternehmen dies tat." ("Akten waren
vernichtet", Interview mit der Süddeutschen Zeitung
19.12.2007) Jedoch geschah dies in vielen Fällen erst auf
öffentlichen Druck und es bedeutete nicht, dass tatsächlich
Verantwortung für die Verbrechen übernommen oder die Beteiligung
eingestanden wurde.
Exemplarisch steht dafür der Fall der Dresdner Bank. In einer
Fernsehdokumentation des Hessischen Rundfunks aus dem Jahre 1997 von
Dagmar Christmann und Thomas Rautenberg wurden einer breiten
Öffentlichkeit konkrete Hinweise auf die tiefbraune Vergangenheit
des Unternehmens vorgestellt, von reichlich juristischen Querelen
begleitet. Offiziell erklärte die Bank, das entsprechende Material
sei verbrannt. Tatsächlich befanden sich die belastenden Akten
weggeschlossen in einem Hinterhaus in Berlin Kreuzberg.
Durch den öffentlichen Druck, den diese Veröffentlichung
ausgelöst hatte, sah sich der Vorstand der Bank jedoch gezwungen,
eine eigene Aufarbeitung vorzunehmen. Man beauftragte vier
Unternehmenshistoriker, gewährte ihnen Einsicht in mittlerweile in
Frankfurt katalogisierte Bestände und erhielt 2006 eine Auswertung
von 2374 Seiten, die ergab, wie aktiv die Dresdner Bank Teil des
verbrecherischen NS-Systems wurde. Insbesondere die engen
wirtschaftlichen Beziehungen zur SS verband diese Bank mit den
Massenverbrechen des Faschismus. Sie trieb jüdische Firmen gezielt
in den Konkurs und verdiente daran gut. Unter Tarnnamen wie
"Deutsche Ansiedlungsgesellschaft" oder
"Ahnenerbe" wurden die Geschäfte der SS abgewickelt. Sie
war als Großaktionär einer Baufirma an der Errichtung des
Vernichtungslagers Auschwitz beteiligt und nicht zuletzt profitierte
die Dresdner Bank von den europäischen Raubzügen der Nazis. (Henke,
Klaus-Dieter (Hg.): Die Dresdner Bank im Dritten Reich, in vier
Teilbänden von Johannes Bähr, Dieter Ziegler, Harald Wixforth und
Klaus-Dietmar Henke, R. Oldenbourg Verlag 2006, 2374 S.)
Ähnlich kritische Veröffentlichungen sind in den letzten Jahren
über den Flick-Konzern im Dritten Reich (Johannes Bähr, Axel
Drecoll, Bernhard Gotto, Kim Christian Priemel, Harald Wixforth: Der
Flick-Konzern im Dritten Reich. Herausgegeben durch das Institut
für Zeitgeschichte München-Berlin, München 2008), über die
BMW-Dynastie Familie Quandt (Das Schweigen der Quandts, Film von
Eric Fiedler und Barbara Siebert, 2007) und über den
"Freundeskreis Reichsführer SS" als Netzwerk von
Wirtschaft, SS und hoher Ministerialbürokratie (Tobias Bütow,
Ein KZ in der Nachbarschaft. Das Magdeburger Außenlager der Brabag
und der "Freundeskreis Himmler", Böhlau 2004)
erschienen.
Damit könnte man den Eindruck erhalten, dass das Thema
"Wirtschaft als Profiteure und Förderer des Faschismus"
hinreichend bearbeitet sein. Dem ist jedoch mitnichten so. Abgesehen
davon, dass es immer noch "weiße Flecken" der
Geschichtsforschung gibt, steht insbesondere die Popularisierung der
Erkenntnisse wissenschaftlicher Aufarbeitung für das allgemeine
Geschichtsbild als Herausforderung auf der Tagesordnung. Die
Tatsache, dass z.B. Dokumentationen über die Dresdner Bank oder
Flick vom Umfang und vom Verkaufspreis nur auf Bibliotheken und
einen Kreis von Spezialisten zielen, unterstreicht, dass hier noch
viel Raum für antifaschistische Geschichtsaufklärung besteht.
Gerade die Auseinandersetzung mit dieser Thematik stellt in
zweierlei Hinsicht die ideologischen Vorgaben staatlicher
Geschichtspolitik in Frage.
Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Verantwortung von
Industrie und Banken für faschistische Verbrechen lässt zum Ersten
die These von der Gleichheit "zweier Diktaturen" in sich
zusammenfallen, zeigt sie doch die reale Dimension der Verbrechen
und die gesellschaftlichen Kräfte, die an diesen Verbrechen
beteiligt bzw. Nutznießer dieser Verbrechen waren. Die
Beschäftigung mit den Förderern und Profiteuren des Faschismus
passt nicht in das ideologische Konstrukt der "zwei deutschen
Diktaturen". Die Kategorie des "Unrechtsstaates", die
gleichermaßen auf NS-Zeit und DDR-Geschichte angewandt werden soll,
kann die Verbrechen, derer sich Unternehmen und Banken schuldig
gemacht haben, nicht erfassen. Der millionenfache Mord in den KZs,
die Ausbeutung von Sklavenarbeitern und die Ausplünderung von
überfallenen Ländern hat keine Entsprechung in der Geschichte des
Sozialismus. Aus antifaschistischer Perspektive sind jedoch die
tatsächlichen Verbrechen, die Opfer und Leidtragenden und die
Täter und Nutznießer zu benennen. Und es ist zu erklären, warum
ein System wie die faschistische Herrschaft in Deutschland gerade
für solche Verbrechen, wie Raub von Eigentum, Zwangsarbeit und
Ausplünderung überfallener Länder die ideale Grundlage
darstellte. Damit wird der verbrecherische Charakter faschistischer
Ideologie und Politik auch für heute erkennbar.
Zum Zweiten führt die Beschäftigung mit den Profiteuren
faschistischer Verbrechen zwangsläufig zu der Frage, gegen wen bzw.
was sich antifaschistische Strategie richten müsse.
Antifaschistisches Handeln kann sich unter einer solchen Perspektive
nicht allein gegen das provokante und menschenfeindliche Auftreten
von Neonazi-Gruppen richten, sondern muss für eine Gesellschaft, in
der "der Nazismus mit seinen Wurzeln vernichtet" ist,
eintreten. Und die gesellschaftlichen Wurzeln faschistischer
Herrschaft finden sich auch in den wirtschaftspolitischen
Machtverhältnissen in diesem Land. Diese Erkenntnisse aus dem
antifaschistisch demokratischen Neubeginn von 1945 haben Gültigkeit
bis heute. In diesem Sinne kann die Auseinandersetzung mit den
Verbrechen der Wirtschaft eine wichtige Hilfestellung für
antifaschistische Orientierung heute und morgen liefern.
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