Heartfield: "Millionen stehen hinter Hitler"

Rallye „Spurensuche Verbrechen der Wirtschaft 1933-1945“

Ein Projekt der VVN/BdA NRW

 

13.09.2012

Keppler half Hitler an die Macht - Das deutsche Großkapital, der „Keppler-Kreis“ und die NSDAP

Eine unentbehrliche Vorgeschichte des 30. Januar 1933

Wilhelm Keppler (* 14. Dezember 1882 in Heidelberg; † 13. Juni 1960 in Friedrichshafen) studierte Maschinenbau und schloss sich den Corps Frisia Karlsruhe und Baltica Danzig an. Ab 1921 war er einer von zwei Direktoren und Mitinhaber der Odin-Werke zur Produktion von Fotogelatine. Am 1. April 1932 wird er auf Anregung Hitlers Gründer eines Unterstützerkreises für die NSDAP aus Männern der Wirtschaft, des sogenannten „Studienkreis für Wirtschaftsfragen“ oder Keppler-Kreis. Der NSDAP war er im Jahre 1927 beigetreten (Mitglieds-Nr. 62.424), später wird er SS-Mitglied und bringt es zum Staatssekretär – und Angeklagten in Nürnberg. Im März 1928 organisierte er eine Rede Hitlers vor 650 Industriellen in Heidelberg, zu der er 800 Einladungen verschickte.

Ziel des Kreises war es, den ökonomisch unerfahrenen Hitler in Wirtschaftsfragen zu beraten und den Aufstieg der NSDAP zu fördern. Historisch bedeutsam wurde die Vereinigung, als Keppler und der Bankier Kurt Freiherr von Schröder den Kontakt zwischen Hitler und Franz von Papen herstellten, der schließlich am 30. Januar 1933 zur Machtübergabe an die Nationalsozialisten führen sollte. In dieser Zeit, Anfang der 30er Jahre, wirkte Keppler u.a. in Köln und arbeitete in der NSDAP-Gauleitung mit Robert Ley, dem seinerzeitigen Gauleiter zusammen.

Dr. Reiner Zilkenat (Berlin) stellte in seiner im Juli 2012 entstandenen Arbeit den  Keppler-Kreis in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, die er für die Spurensuche „Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr“ zur Verfügung stellte.

Ihr Titel:

Das deutsche Großkapital, der „Keppler-Kreis“ und die NSDAP:

Eine unentbehrliche Vorgeschichte des 30. Januar 1933 [Eine stark gekürzte Version dieses Beitrages erschien in der „jungen welt“, 18.5.2012, S. 10f.]

Die Legenden-Bildungen zu den Ursachen der Machtübergabe an die NSDAP  begannen bereits am 30. Januar 1933. Die deutschen Faschisten selbst sprachen von „nationaler Revolution“ und „Machtübernahme“; sie proklamierten die Schaffung einer klassenübergreifenden „Volksgemeinschaft“.

Bürgerliche Autoren haben diese terminologischen Verschleierungs-Manöver der Nazis übernommen, zu denen auch die Selbstbezeichnung der deutschen Faschisten als „Nationalsozialisten“ und die Bezeichnung für die Ereignisse um den 30. Januar 1933 als Macht„ergreifung“ gehören. Sie sind hierzulande Allgemeingut in den Schulbüchern und den herrschenden Medien sowie in den am meisten verbreiteten Darstellungen zur Geschichte des Faschismus. Allerdings: Zeigen nicht auch linke Autorinnen und Autoren, einschließlich des Verfassers dieser Zeilen, gelegentlich manche Unbefangenheit beim Gebrauch von Begriffen, die von den deutschen Faschisten absichtsvoll zur Tarnung ihrer politischen Ziele und zur Irreführung des Publikums konstruiert worden waren?

Derartige Praktiken dienen seit mittlerweile achtzig Jahren einem einzigen Ziel: Ein genetischer Zusammenhang zwischen der Entstehung und dem Wachstum der Nazi-Bewegung einerseits und der herrschenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung andererseits sowie die aktive Unterstützung der Faschisten durch einflussreiche Kreise des Großkapitals dürfen um keinen Preis in das Geschichtsbewusstsein breiter Bevölkerungskreise eindringen; sie müssen auch im akademischen Betrieb unerwünschte, ja beschwiegene Themen bleiben. Die berühmte Formulierung Max Horkheimers: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ [Max Horkheimer: Die Juden und Europa, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. VIII, 1939, H. 1-2, Reprint München 1970, S. 115f.], sei durch empirische Forschung gegenstandslos geworden, so heißt es in einer weit verbreiteten „Geschichte des Nationalsozialismus“, gedacht für den akademischen Unterricht. [Siehe Michael Wildt: Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 9. Ebenda werden die zu dieser Thematik publizierten Ergebnisse der DDR-Geschichtswissenschaft ebenso unterschiedslos wie ignorant als „in der Tat wissenschaftlich nicht viel wert“ disqualifiziert. Einige dieser „wertlosen“ Publikationen werden wir  in den Anmerkungen dieses Beitrages aufführen.]

Die politischen Motive derartiger Geschichtsmanipulationen hat einst der US-amerikanische Historiker Henry A. Turner mit folgenden Worten definiert: „Entspricht die weit verbreitete Ansicht, dass der Faschismus ein Produkt des modernen Kapitalismus ist, den Tatsachen, dann ist dieses System kaum zu verteidigen. Ist diese Meinung jedoch falsch, dann ist es auch die Voraussetzung, auf der die Einstellung vieler Menschen zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung beruht. Die Frage gehört zu denen, über die eine Einigung geboten ist, wenn die Menschheit zu einem friedlicheren Neben- und Miteinanderleben kommen soll.“ [Henry A. Turner: Faschismus und Kapitalismus in Deutschland. Studien zum Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaft, Göttingen 1972, S.7.]

Diesen Einschätzungen ist durchaus zuzustimmen. Deshalb ist es am Vorabend des 80. Jahrestages der Machtübergabe an die deutschen Faschisten von immenser politischer Relevanz, sich mit dem 30. Januar 1933 und seiner Vorgeschichte zu befassen.

Dies erscheint um so notwendiger, als die Beziehungen zwischen der faschistischen Bewegung und wichtigen Repräsentanten des deutschen Großkapitals in der Zeit der Weimarer Republik seit der „Abwicklung“ der Historikerinnen und Historiker aus der DDR [Siehe zu dieser Thematik den Beitrag des US-amerikanischen Historikers Mitchell G. Ash: Geschichtswissenschaft, Geschichtskultur und der ostdeutsche Historikerstreit, in: Geschichte und Gesellschaft, 24. Jg., 1998, H. 2, S. 283ff., wo es u.a. heißt: „…,dass der zwischen 1989 und 1994 erfolgte Stellenabbau in den neuen Ländern allein im Hochschulbereich mehr als zweimal größer war, als die beiden Entlassungswellen von 1933 und 1945 zusammengenommen.“ (S. 287)], der pauschalen Verunglimpfung bzw. dem Verschweigen ihrer einschlägigen Forschungsergebnisse und seit dem Paradigmenwechsel innerhalb der westdeutschen Historiographie von der Sozialgeschichte zur „weithin entpolitisierten Forschungsrichtung einer unverdächtigen, häufig harmlosen und braven, nichtoppositionellen Kulturgeschichte“ [Manfred Gailus: Was macht eigentlich die historische Protestforschung? Rückblicke, Resümee, Perspektiven, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen. Forschungen und Forschungsberichte, Nr. 34/2005. S. 141.], eine bestenfalls randständige Thematik darstellen. Inzwischen haben mehrere Generationen von Studierenden der Geschichtswissenschaft die Universitäten verlassen, ohne mit dieser überaus wichtigen Frage konfrontiert worden zu sein. [Anders verhält es sich mit der Rolle großer Konzerne und Banken im Faschismus an der Macht. Hier existieren mittlerweile – was nicht zur Thematik dieses Artikels gehört – Studien u.a. über die damalige Politik der Dresdner Bank, der Deutschen Bank, des Allianz-Konzerns und des Verlagshauses Bertelsmann. In einleitenden Kapiteln wird allerdings z.T. auch das jeweilige Verhältnis dieser Unternehmen zur NSDAP vor 1933 angesprochen, zumeist in exkulpatorischer Weise.] Ist dies mit der immer wieder lauthals erhobenen Forderung nach „Pluralismus“ in den Sozial- und Geisteswissenschaften – Theorien, Methoden und Themen betreffend – in Einklang zu bringen?

Geradezu paradigmatisch erscheinen uns in diesem Zusammenhang die beiden während einer wissenschaftlichen Tagung in Jena im Dezember 2009 gehaltenen Vorträge zu angeblichen Auffassungen der DDR-Geschichtswissenschaft über das Verhältnis des deutschen Monopolkapitals zum Faschismus an der Macht. [Siehe Unternehmen im Nationalsozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur, hrsg. v. Norbert Frei u. Tim Schanetzky, Göttingen 2010. Darin finden sich folgende Beiträge zur Thematik: Carola Sachse: Revisited: Primat der Politik, Primat der Ökonomie, S. 48ff. (ein eher feuilletonistischer Beitrag mit autobiographisch Einsprengseln über das Auffinden alter Zeitschriften-Jahrgänge in heimischen Bücherregalen) u. Jörg Osterloh: Die Monopole und ihre Herren. Marxistische Interpretationen, S. 36ff. (eine sehr mutig formulierte Überschrift, wie sich nach der Lektüre dieses Vortragstextes herausstellt).] Abgesehen davon, dass in Jena noch einige Historiker leben, die zu dieser Thematik zahlreiche Publikationen vorgelegt haben und einen wissenschaftlichen Disput sicherlich nicht gescheut hätten, verengen die Autoren den Blick seltsamer Weise auf einen summarischen Überblick zur Betriebsgeschichtsschreibung in der DDR sowie auf die nunmehr über vierzig Jahre zurückliegende Kontroverse zwischen Timothy W. Mason, Dietrich Eichholtz, Kurt Gossweiler und Eberhard Czichon zur Frage des Primats der Ökonomie oder der Politik im Faschismus an der Macht, die seinerzeit in den Spalten der Westberliner Zeitschrift „Argument“ geführt und breit rezipiert wurde. [Siehe die Zusammenstellung dieser Beiträge in: Argument-Studienhefte, Heft 6, Berlin 1978.] Die einschlägigen Publikationen aus den siebziger und achtziger Jahren, z.B. von Joachim Petzold, Manfred Weißbecker, Wolfgang Schumann, Gerhart Hass, Kurt Pätzold, Wolfgang Ruge, Lotte Zumpe, Kurt Gossweiler, Werner Röhr, Wolfgang Schlicker und Jürgen John – um nur sie an dieser Stelle zu nennen – werden nicht in den Blick genommen. Die Studien in den „Jenaer Beiträgen zur Parteiengeschichte“ – sie hätten sich vielleicht noch in den Beständen der Universitätsbibliothek der Alma Mater Jenensis auffinden lassen – , dem vierbändigen „Lexikon zur Geschichte der bürgerlichen Parteien“ sowie die vor allem in der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“, im „Jahrbuch für Geschichte“ und im „Bulletin des „Arbeitskreises ‚Zweiter Weltkrieg’“ an der Akademie der Wissenschaften publizierten Ergebnisse der seinerzeit auch international beachteten Jenaer Colloquien zur Geschichte des Faschismus werden ebenfalls keiner Erwähnung für würdig befunden.

Aus alledem folgt für uns, dass es an der Zeit ist, daran zu erinnern, welchen Anteil deutsche Konzernlenker daran hatten, damit aus dem „Trommler“ Adolf Hitler der „Führer“ des verbrecherischsten aller Regime werden konnte.

Hitler und die NSDAP – Lange Zeit kein Thema für das Großkapital?

Schon lange, bevor die NSDAP eine wähler- und mitgliederstarke Partei wurde, galten ihr und ihrem selbst ernannten „Führer“ Adolf Hitler das Interesse nicht nur mittelständischer Unternehmer, wie z.B. des Berliner Klavierproduzenten Carl Bechstein oder der Münchner Verleger Julius Lehmann und Hugo Bruckmann, sondern auch einflussreicher Herren aus den Vorstandsetagen deutscher Konzerne. [Siehe Kurt Gossweiler: Kapital, Reichswehr und NSDAP 1919-1924, 2., durchgesehene Aufl., Berlin 1984, S. 339ff. u. 558ff; Helmuth Auerbach: Hitlers politische Lehrjahre und die Münchner Gesellschaft 1919-1923. Versuch einer Bilanz anhand der neueren Forschung, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 25. Jg., 1977, H. 1, S.1 ff., bes. S. 31f.] Hinter verschlossenen Türen wurde Hitler immer wieder die Gelegenheit geboten, seine politischen Ansichten und Ziele unverblümt auszuplaudern – ohne die lästige Rücksichtnahme auf die ansonsten in der Öffentlichkeit verkündeten Phrasen über einen angeblich angestrebten „nationalen Sozialismus“. Meilensteine derartiger Auftritte bildeten seine Rede vor dem renommierten „Hamburger Nationalklub von 1919“ am 28. Februar 1926 [Dieser Club wurde geleitet von Max v. Schinckel, dem Direktor der Filiale der Deutschen Bank in Hamburg, die weitgehend das Überseegeschäft des schon damals bedeutendsten Kreditinstituts Deutschlands managte. Schinckel war außerdem der von 1910 bis 1933 amtierende Aufsichtsratsvorsitzende der größten deutschen Reederei, der Hamburg-Amerika Paketfahrt AG (HAPAG) sowie Mitglied des Engeren Ausschusses („Aufsichtsratspräsidium“) des Aufsichtsrates bei der Gelsenkirchener Bergswerks AG. Siehe Vossische Zeitung, Nr. 353, 27.7.1933 sowie die vom 16.3.1933 datierte Ausarbeitung der Volkswirtschaftlichen Abteilung der IG Farben über die Zusammensetzung von Vorstand und Aufsichtsrat der HAPAG: Bundesarchiv Berlin (im Folgenden: BArch), R 8128/2187, unfol.] und mehrere Ansprachen vor Großkapitalisten und Managern an Rhein und Ruhr im gleichen und im darauf folgenden Jahr. [Siehe Kurt Gossweiler: Hitler und das Kapital 1925-1928, in: derselbe: Aufsätze zum Faschismus. Mit einem Vorwort von Rolf Richter, 2., durchgesehene Aufl., Berlin 1988, S. 486ff.]

Hier bejubelten die anwesenden Herrschaften regelmäßig die von Hitler artikulierten politischen Auffassungen, bei denen es im Kern stets um die Notwendigkeit einer Vernichtung der Organisationen der Arbeiterbewegung, die Zerstörung der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie und um die zielstrebige politische, ideologische und materielle Vorbereitung eines zweiten „Griffs nach der Weltmacht“ durch den deutschen Imperialismus ging.

In einem Brief vom 30. März 1927 an Walter Hewel, Teilnehmer des gescheiterten „Hitler-Ludendorff-Putsches“ am 9. November 1923 in München, schildert Rudolf Hess, der Sekretär Hitlers und später sein Stellvertreter innerhalb der NSDAP, welche Wirkung der Nazi-„Führer“ bei den Zuhörern im Ruhrgebiet erzielen konnte: „Wie in Hamburg, so war auch hier die Stimmung erst ziemlich kühl, ablehnend, teils saß man mit spöttischem Lächeln dem Volkstribunen gegenüber. Ich hatte große Freude daran, beobachten zu können, wie sich die Herren allmählich umstellten, wobei man ihnen ihr innerliches Sträuben anmerkte. Zum Schluss wurde geklatscht, wie diese Herren wohl selten klatschten.“ [Zitiert nach ebenda, S. 500.] Wiederum an Hewel adressiert, heißt es rückblickend in einem Schreiben vom 8. Dezember 1928: „Jedes Mal sprach er (Hitler-R.Z.) auch in Essen vor einem geladenen Kreis von Wirtschaftlern, Wissenschaftlern usw. in einer denen gemäßen Weise. Immer größere Säle mussten auch für diese Veranstaltungen genommen werden. Zum Schluss nahmen die Spitzen der Wirtschaft teil…Stets restlose Zustimmung, und ein Beifall, wie man ihn bei diesen Kreisen nicht gewohnt ist.“ [Zitiert nach ebenda.]

Aus Hitlers Rede am 28. Februar 1926 vor dem „Hamburger Nationalklub von 1919“:

„Die Aufgabe meiner Bewegung ist sehr eng umschrieben: die Zertrümmerung und Vernichtung der marxistischen Weltanschauung. Ich muss eins herausgreifen: die Zertrümmerung und Vernichtung, das ist etwas wesentlich anderes als das, was die bürgerlichen Parteien als Ziel vor den Augen haben. Den bürgerlichen Parteien schwebt als Ziel nicht die Vernichtung vor, sondern nur ein Wahlsieg. (…) Das wäre anders, wenn man prinzipiell kämpfen sollte. Einer bleibt dann am Boden liegen, entweder der Marxismus rottet uns aus oder wir rotten ihn aus bis zur letzten Spur. Diese Formel würde naturgemäß eines Tages eine Macht bringen, die allein regiert, so, wie in Italien heute eine Weltanschauung, eine Macht regiert, die den anderen rücksichtslos das Genick zermalmt und zerbricht und kein Hehl daraus macht, dass der Kampf erst an dem Tag beendet ist, an dem der andere restlos erledigt ist...(…)Wenn man begriffen hat, dass die Schicksalsfrage darin besteht, dass der Marxismus gebrochen wird, dann muss auch jedes Mittel recht sein, das zum Erfolg führen kann. Das ist das erste: eine Bewegung, die das durchführen will, muss sich an die breite Masse wenden, an die Masse, mit der der Marxismus selbst kämpft. Eine solche Bewegung kann sich nur an die Mannesfaust wenden, die weiß, man kann Gift nur durch Gegengift brechen.(…) So muss eine Bewegung,…die zum Kampf ausholen will, sich selbst der Masse bedienen…Diese breite, sture Masse, die vernarrt, verbohrt, für den Marxismus kämpft, ist die einzige Waffe für die Bewegung, die den Marxismus brechen will. Mit nichts anderem würden wir dieser Weltpest Herr werden. (…) Wenn eine Bewegung aber an die breite Masse appellieren will,…tritt das große Recht in Erscheinung, dass dann jedes Mittel zu verantworten ist, das zum Ziele führt. (Bravo!) .“

Werner Jochmann: Im Kampf um die Macht. Hitlers Rede vor dem Hamburger Nationalklub von 1919, Frankfurt a.M. 1960, S. 102f., 104, 106. Hervorhebungen von mir – R.Z. Auch in: Hitler. Reden – Schriften – Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, Bd. I, hrsg. u. kommentiert v. Clemens Vollnhals, München u.a. 1992, S. 318f., 319f., 320, 321.

Die von Hitler in seinen Reden propagierten Anschauungen – sie waren weitgehend identisch mit den Grundelementen seiner Ansprache vor dem „Hamburger Nationalklub“ –  waren durchaus kompatibel mit nicht wenigen Vorstellungen einflussreicher Exponenten des Monopolkapitals, aber auch mit grundsätzlichen Zielstellungen ihrer beiden wichtigsten Interessenverbände, des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (RDI) und der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, die in entsprechenden Denkschriften wie auch in nicht-öffentlichen Erklärungen gegenüber den Reichsregierungen [Siehe für die Zeit der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise das aussagekräftige Material in: Politik und Wirtschaft in der Krise 1930-1932. Quellen zur Ära Brüning, bearb. v. Ilse Maurer u. Udo Wengst unter Mitwirkung v. Jürgen Heideking, Düsseldorf 1980, 2 Teile.] abgegeben worden waren.

Dabei war die im Dezember 1929 vom RDI publizierte programmatische Denkschrift mit dem dramatisch klingenden Titel „Aufstieg oder Niedergang?“ von herausragender Bedeutung. [Siehe Aufstieg oder Niedergang? Deutsche Wirtschafts- und Finanzreform 1929. Eine Denkschrift des Präsidiums des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Berlin 1929 (Veröffentlichungen des RDI, Nr. 49). Ähnlich: Die Reform der Sozialversicherung – eine Schicksalsfrage des deutschen Volkes. Vorschläge der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Berlin 1930 sowie: Abänderungsvorschläge der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zur Schlichtungsordnung, Berlin, im April 1929 (Exemplar in: BArch, R 8034 II/4208, Bl. 178ff.). Zur Vorbereitung und Bedeutung der Denkschrift des RDI sowie zur bereits an der Jahreswende 1928/29 begonnenen Kapitaloffensive siehe Reiner Zilkenat: „Der Feind steht links!“ Kapitaloffensive gegen Demokratie und Arbeiterbewegung 1929, in: Rundbrief, H.  3-4/2009, S. 26ff.] Die hier vorgeschlagenen Maßnahmen eines rigiden Sozialabbaus bei gleichzeitiger drastischer Senkung der Steuern und Abgaben für die Unternehmen, wobei die Gewerbesteuer vollständig abgeschafft werden sollte, sowie die mit dem Begriff einer „Verwaltungsvereinfachung“ propagierten Maßnahmen eines nachhaltigen Demokratieabbaus, konnten letztlich nur mit Hilfe eines autoritären Regimes und nach der politischen Ausschaltung der Gewerkschaften und Arbeiterparteien durchgesetzt werden. [Unverständlich ist, dass Reinhard Neebe behauptet, die in dieser Denkschrift vorgeschlagenen Maßnahmen, seien „durchaus innerhalb des politischen Systems von Weimar durchzusetzen“ gewesen. Reinhard Neebe: Konflikt und Kooperation 1930-1933: Anmerkungen zum Verhältnis von Kapital und Arbeit in der Weltwirtschaftskrise, in: Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat. Zum Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Industriegesellschaft, hrsg. v. Werner Abelshauser, Stuttgart 1987, S. 229. Hervorhebung v. Verf. Dies ist um so weniger zutreffend, als die Kommentierungen dieser Denkschrift während der Tagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie im Dezember 1929 in Berlin durch führende Industrielle und in der „unternehmerfreundlichen“ Presse (u.a. Deutsche Allgemeine Zeitung, Berliner Börsen-Zeitung) an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig ließen. Ähnlich wie Neebe wird auch in der ausführlichen Analyse von „Aufstieg oder Niedergang“ bei Michael Grübler: Die Spitzenverbände der Wirtschaft und das erste Kabinett Brüning. Vom Ende der Großen Koalition 1929/30 bis zum Vorabend der Bankenkrise 1931. Eine Quellenstudie, Düsseldorf 1982, S. 55., die Sprengkraft der hier niedergelegten Forderungen für das politische und soziale System der Weimarer Republik und die ihnen immanente Perspektive eines autoritären Regimes verkannt. Siehe zur RDI-Tagung im September 1929 in Düsseldorf, auf der die Publikation einer grundlegenden Denkschrift zur Wirtschafts- und Finanzpolitik beschlossen und mit geharnischten Reden führender Industrieller vorbereitet wurde: Mitgliederversammlung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie vom 20. und 21. September 1929 in Düsseldorf, Berlin 1929 (Veröffentlichungen des RDI, Nr. 48). Siehe auch: Vorwärts, Nr. 440, 22.9.1929: „Abgesteckte Kampfziele. Zur Unternehmertagung in Düsseldorf“; ebenda, Nr. 455, 28.9.1929: „Vor schweren Kämpfen. Das Großkapital rüstet zum Angriff“. Zur Dezember-Tagung des RDI, auf der die Denkschrift präsentiert wurde, siehe Vorwärts, Nr. 583, 23.12.1929: „Die Tagung der Unternehmer“.] Derartige Vorschläge bestätigten:

Das Verhältnis der deutschen Monopolbourgeoisie zur Weimarer Republik war vornehmlich taktischer Natur. Die in der Novemberrevolution und danach von der Arbeiterklasse erkämpften politischen und sozialen Errungenschaften wurden von ihnen nur solange anerkannt, wie sie dazu beitrugen, in der Zeit der revolutionären Nachkriegskrise die kapitalistischen Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse stabilisieren zu helfen. So schnell als möglich wollten sie z.B. den Acht-Stunden-Arbeitstag, die Anerkennung der Gewerkschaften als gleichberechtigte Tarifpartner, die Verbindlichkeit der abgeschlossenen Tarifverträge, den Rechtsanspruch auf Arbeitslosengeld für Erwerbslose, die Möglichkeiten des Staates, als Schlichter in ergebnislos geführte Tarifverhandlungen einzugreifen („Zwangsschlichtung“), die Ausbreitung des kommunalen Wohnungsbaus, die Etablierung eines öffentlichen Sektors in der Volkswirtschaft und das Betriebsrätegesetz wieder außer Kraft setzen, mithin das gesamte System der staatlichen Sozialpolitik bis zur Unkenntlichkeit reduzieren und es auf den Stand vor der Revolution von 1918/19 zurückführen. [Siehe hierzu Michael Schneider: Unternehmer und Demokratie. Die freien Gewerkschaften in der unternehmerischen Ideologie der Jahre 1918 bis 1933, Bonn u. Bad Godesberg 1975. Siehe auch die folgenden Studien von Jürgen John: Verbandspolitik und Rechtsentwicklung 1922-1926. Zur politischen Rolle der Spitzenverbände des deutschen Monopolkapitals in der Weimarer Republik, in: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 24, 1981, S. 127ff.; Die Faschismus-„Kritik“ in der Zeitschrift „Der Arbeitgeber“. Zur Politik der Spitzenverbände der deutschen Monopolbourgeoisie 1923/24-1932, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (im Folgenden: ZfG), 30. Jg., 1982, H. 12, S. 1072ff.; Industrieverbände und Politik. Entwicklungstendenzen im kapitalistischen Deutschland bis 1933, in: ZfG, 34. Jg., 1986, H. 11, S. 976ff.; Ernst v. Borsigs „Betrachtungen“ zur Sozialpolitik 1927, in: ZfG, 37. Jg., 1989, H. 12, S. 1083ff.] Vor allem: Sollte endlich der Zeitpunkt herangereift sein, um den im eigenen Kontor praktizierten „Herr-im-Hause“-Standpunkt kompromisslos auf den Staat übertragen zu können, so galt es, zielgerichtet zu handeln. Als politischer Bündnispartner spielte die faschistische Partei mangels Massenanhang dabei zunächst nur eine untergeordnete Rolle.    

Doch seit dem 14. September 1930, nachdem bei den Wahlen zum Reichstag die zuvor unbedeutende NSDAP zur zweitstärksten Partei nach der SPD avanciert war [Siehe Reiner Zilkenat: „Eine schwarze Stunde für Deutschland!“ Die NSDAP und die Reichstagswahlen vom 14. September 1930, in: Rundbrief, Heft 3-4/2010, S.60ff.], und angesichts einer sich verschärfenden ökonomischen und gesellschaftlichen Krisis bisher nicht gekannten Ausmaßes, wurde für die Vertreter des Großkapitals die Frage akut: „Wie halten wir’s mit der NSDAP“?

Emil Kirdorf als Protektor der NSDAP

Allerdings ist bei der Beantwortung dieser Fragestellung die zutreffende Aussage Gerald D. Feldmans zu beachten, dass es, „bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen, für die Wirtschaft nicht opportun war, enge Beziehungen zu ihnen in aller Offenheit zu pflegen. Nur ein paar Einzelgänger wie Fritz Thyssen und Emil Kirdorf machten sich nichts daraus, sich öffentlich mit der NSDAP zu identifizieren.“ [Gerald D. Feldmann: Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft 1933-1945, München 2001, S. 78. Hervorhebung von mir-R.Z.]

Tatsächlich gehörten die beiden genannten Exponenten der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie zu den Nazi-Propagandisten der ersten Stunde. [Die in diesem Beitrag angeführten Funktionen von Großindustriellen, Managern und Bankiers, die den Faschismus unterstützten, habe ich folgenden zeitgenössischen Veröffentlichungen entnommen:  Handbuch der deutschen Wirtschaft 1927, hrsg. v. Alfons Nobel, Berlin u. Leipzig 1927; Deutscher Wirtschaftsführer. Lebensgänge deutscher Wirtschafts-Persönlichkeiten, bearb. v. Georg Wenzel, Hamburg u.a. 1929; Handbuch der deutschen Gesellschaft. Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild, Berlin 1931, 2 Bde.; Degeners Wer ist’s? , verschiedene Jahrgänge. Außerdem: Neue Deutsche Biografie, diverse Bände; Hermann Weiß,

Hrsg.: Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2002. Herangezogen wurden auch zeitgenössische Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Protokolle von Verbandstagungen sowie Unterlagen in den Akten der IG Farben und der Berliner Handelsgesellschaft, die im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde verwahrt werden. Angaben aus der Sekundärliteratur wurden in der Regel nicht übernommen; bei sich widersprechenden Angaben, die nicht zweifelsfrei überprüft werden konnten, werden die angeblich ausgeübten Funktionen nicht genannt. Worum es geht, sind möglichst präzise Angaben über die jeweiligen Funktionen im Jahre 1932, dem Jahr der Konstituierung des Keppler-Kreises und der Überreichung der Industriellen-Eingabe an Hindenburg.]

Der 1847 geborene Kirdorf galt als der „große, alte Mann“ an Rhein und Ruhr. [Siehe Henry A. Turner: Faschismus und Kapitalismus in Deutschland, S. 60ff., der allerdings die bedeutsame Rolle Kirdorfs, Adolf Hitler und seine Partei in den Kreisen der Mächtigen von Rhein und Ruhr „gesellschaftsfähig“ zu machen, sehr stark relativiert. Dagegen wird die große Autorität  und der Einfluss Kirdorfs unter den Großindustriellen im rheinisch-westfälischen Industriegebiet angemessen bewertet bei Kurt Gossweiler, Hitler und das Kapital 1925-1928, S. 479f., 483f., 486ff., bes. 492ff.] Von 1893  bis 1926 amtierte er als Generaldirektor des größten Bergbau-Unternehmens in Deutschland, der Gelsenkirchener Bergwerks-AG; bis 1927 gehörte er überdies dem Vorstand der Siemens-und-Halske-Werke an. Bereits in der wilhelminischen Ära unterstützte er mit großem finanziellem Aufwand verschiedene reaktionäre Organisationen und Publikationsorgane, vor allem den Alldeutschen Verband. [Siehe Johannes Leicht: Heinrich Claß 1868-1953. Die politische Biographie eines Alldeutschen, Paderborn 2012, S. 116f.. 173f., 212f., 216f., 230f., u. 248f.] Dessen „Bamberger Erklärung“ vom Januar 1919, in der die Verantwortung Kaiser Wilhelms II., der militärischen, politischen und wirtschaftlichen Eliten des Deutschen Reiches an der Entfesselung des Ersten Weltkrieges sowie an der erlittenen Niederlage vehement geleugnet und eine offene Kampfansage an die in der Novemberrevolution wirkenden sozialistischen und anderen demokratischen Kräfte formuliert worden war, hatte er als Mitglied der fünfköpfigen Hauptleitung des Verbandes mit unterzeichnet. [Siehe BArch, R 8048/256, Bl. 71ff.]

Auch in den Jahren seines Ruhestandes genoss Kirdorf große Autorität und behielt beträchtlichen Einfluss unter den Monopolherren der Schwerindustrie, zumal er weiterhin Aufsichtsrats-Mandate u.a. bei den Vereinigten Stahlwerken, den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken (RWE) und der Großbank Disconto-Gesellschaft ausübte. „Seiner“ Gelsenkirchener Bergwerks-AG blieb er als Mitglied des Aufsichtsratspräsidiums auch fernerhin verbunden. Im Juli 1927 schloss er sich im Ergebnis eines viereinhalbstündigen Gesprächs mit Hitler der NSDAP an (Mitglieds-Nummer 71032) [Siehe Rheinisch-Westfälische Zeitung, Nr. 377, 28.7.1935: „Begegnung mit Adolf Hitler. Eine Unterredung mit Emil Kirdorf“ u. Thomas Trumpp: Zur Finanzierung der NSDAP durch die deutsche Großindustrie. Versuch einer Bilanz, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 32. Jg., 1981, H. 4, S. 226. Das Gespräch Hitlers mit Kirdorf fand am 4. Juli 1927 in der Villa von Elsa Bruckmann statt, der Ehefrau des wohlhabenden Münchner Verlegers Hugo Bruckmann.] und spendierte der faschistischen Partei als „Eintrittsgebühr“ 100.000 Mark. Noch im gleichen Monat organisierte Kirdorf in seinem Haus ein exklusives Treffen Hitlers mit anderen führenden Industriellen. Bereits ein Jahr später verließ er jedoch wieder die NSDAP. Für bürgerliche Historiker wird dies stets als Beleg für seine schnell vollzogene „Entfremdung“ von der Nazipartei angeführt, geradezu paradigmatisch für das Verhältnis Großindustrieller zur NSDAP. [Siehe Henry A. Turner: Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 1985, S. 416.] Die Fakten vermitteln jedoch ein anderes Bild, denn die Motive für seinen Parteiaustritt waren keineswegs grundsätzlicher Natur.

In einer persönlichen Stellungnahme über seine Beziehungen zur Nazipartei formulierte er, dass die NSDAP „im Revier eine Richtung einschlug, gegen die ich mich wenden musste“. Für Hitler empfinde er jedoch weiterhin „warme Freundschaft und Hochschätzung“ [Berliner Lokal-Anzeiger, Nr. 397, 23.8.1930: „Eine Erklärung Kirdorfs“. Der spätere Nazi-Journalist August Heinrichsbauer, der über exzellente Verbindungen zu den Mächtigen an Rhein und Ruhr verfügte und in deren Auftrag einen Pressedienst („Rheinisch-Westfälische Wirtschaftskorrespondenz“) herausgab und redigierte sowie regelmäßig als Autor in der von der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände herausgegebenen Zeitschrift  „Der Arbeitgeber“ hervortrat, würdigte auf der Titelseite der „Berliner Börsen-Zeitung“ Kirdorfs „Verdienste“ anlässlich seines 80. Geburtstages: „Einem Großen zu Ehren! Emil Kirdorf zum 80. Geburtstag“, in: Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 165, 8.4.1927. Hier hieß es u.a. in unfreiwilliger Komik: „Weder geldlicher Gewinn noch Hang zum Beherrschen sind für das Lebenswerk Kirdorfs ausschlaggebend gewesen, sondern die reineren Tugenden der pflichtbewussten Tat, des freudigen Schaffens an der Wirtschaft…Sozial-reaktionär ist Kirdorf nie gewesen.“ Er sei vielmehr der „Repräsentant des vollendetsten Arbeitertypus“.]. Warum ist es wichtig, an diese Episode zu erinnern? Zum einen bezog sich das, was hier als die „Richtung“ der NSDAP „im Revier“ umschrieben wird, auf die in der Parteipropaganda stark akzentuierte antikapitalistische Phraseologie, die besonders dem Ziel diente, den beiden Arbeiterparteien möglichst viele Anhänger und Wähler abspenstig zu machen. Die NSDAP im Ruhrgebiet hatte durch entsprechende propagandistische Aktivitäten, die Hitler in ihrer zugespitzten Form nicht billigte und die schließlich zu einer personellen und organisatorischen Neustrukturierung der Parteiarbeit an Rhein und Ruhr geführt hatte [Siehe Kurt Pätzold u. Manfred Weißbecker: Geschichte der NSDAP 1920-1945, Köln 1981, S. 88ff.], tiefes Misstrauen, ja offene Ablehnung bei den Herren der Schwerindustrie verursacht. Vor allem die Publikation von „14 Thesen der Deutschen Revolution“ im Juli 1929 sorgte für großes Aufsehen. Die 8. These formulierte, man verwerfe „individuelle Wirtschaftssysteme des Kapitalismus, dessen Sturz die Voraussetzung zum Gelingen der Deutschen Revolution ist.“ [Zitiert nach dem Quellenanhang bei Reinhard Kühnl: Die nationalsozialistische Linke, Meisenheim am Glan 1966, S. 289.]

Kirdorf und andere Industrielle befürchteten, dass hier eine Büchse der Pandora geöffnet wurde. Niemand konnte sich dafür verbürgen, dass diese lauthals postulierten Ziele eines Kampfes gegen „den“ Kapitalismus sich nicht nur gegen das „raffende jüdische Kapital“ und die „Plutokraten“, sondern am Ende gegen sie selbst, das „schaffende deutsche Kapital“, wie es in der faschistischen Terminologie hieß, richten könnten.  

Kirdorf blieb der NSDAP allerdings eng verbunden, auch wenn er jetzt innerhalb der vom Medien-Mogul Alfred Hugenberg geführten Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) agierte. So war er u.a. Gast auf dem Parteitag der NSDAP im August 1929 in Nürnberg, wo Hitler ihn persönlich bat, auf der Ehrentribüne Platz zu nehmen, spendierte den Nazis weiterhin bedeutende Summen aus eigener Tasche, vermittelte Hitler streng vertrauliche Treffen mit anderen Großindustriellen von Rhein und Ruhr und wurde folgerichtig im „Dritten Reich“ der Faschisten mit dem Goldenen Parteiabzeichen sowie der Anwesenheit von Hitler und Goebbels bei den Feierlichkeiten zu seinem 90. Geburtstag im April 1937 geehrt.

Fritz Thyssen – „Der gewaltigste unter den Machthabern des Ruhrgebietes“ als Finanzier der NSDAP

Fritz Thyssen zählte wie Kirdorf zu den mächtigsten Exponenten der Schwerindustrie an Rhein und Ruhr. Er sei „als Vorsitzender des Aufsichtsrates der Vereinigten Stahlwerke AG mit einem Aktienkapital von 800 Millionen Mark der gewaltigste und auch der schärfste unter den Machthabern des Ruhrgebietes“ [Vorwärts, Nr. 537, 13.11.1928.], urteilte der sozialdemokratische „Vorwärts“. Vieles sprach für die Richtigkeit dieser Annahme.

Seit der Bildung der Vereinigten Stahlwerke AG im Jahre 1926, des nach der United States Steel Corporation zweitgrößten schwerindustriellen Konzerns weltweit, amtierte er als Vorsitzender des Aufsichtsrates. Daneben war er stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der zum Flick-Imperium gehörenden Mitteldeutschen Stahlwerke AG. Weitere Aufsichtsratsmandate nahm er z. B. bei der Gelsenkirchener Bergwerks AG, den Siemens-Schuckert-Werken, bei den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken, bei der Bremer Vulcan Schiffbau- und Maschinenfabrik und bei der UfA wahr. Außerdem war er Mitglied des Zentralausschusses der Deutschen Reichsbank sowie des Präsidiums des RDI und der Ruhrlade. Dabei handelte es sich um einen im Januar 1928 gegründeten, im Verborgenen wirkenden Kreis von wenigen Großindustriellen des Ruhrgebietes, die für bürgerliche Parteien, einschließlich der NSDAP, finanzielle Mittel für die Organisierung von Wahlkämpfen, aber auch für die Herausgabe von „industrie-freundlichen“ Zeitungen, darunter die renommierte „Deutsche Allgemeine Zeitung“ sowie den exklusiven „Berliner Herrenklub“, bereit stellten. [Siehe Henry A. Turner: Faschismus und Kapitalismus in Deutschland, S. 114ff.; Gustav Luntowski: Hitler und die Herren an der Ruhr. Wirtschaftsmacht und Staatsmacht im Dritten Reich, Frankfurt a.M. u.a. 2000, S. 15ff., 37ff., 51f. u. 59. Siehe auch Wolfgang Ruge: Die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ und die Brüning-Regierung. Zur Rolle der Großbourgeoisie bei der Vorbereitung des Faschismus, in: ZfG, 16. Jg., 1968, H. 1, S. 19ff.] Offenbar wurden hier auch die Vorgehensweisen bei Tarifauseinandersetzungen in der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie koordiniert. [Siehe z.B. Bundesarchiv – Zwischenarchiv Hoppegarten – R 13 I/403, Bl. 44: Aufzeichnung des Geschäftsführers des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller und Reichstagsabgeordneten der DNVP, Dr. Jakob W. Reichert, vom 3. Dezember 1930 (Handschriftlicher Vermerk Reicherts: „Nicht für die Presse“), wo es um die in der Ruhrlade abgesprochene Strategie der Industriellen anlässlich des Ruhrbergarbeiterstreiks an der Jahreswende 1930/31 ging.]

Wie Reinhard Neebe schreibt, handelte es sich hier um „das ‚Geheimkabinett’ der Schwerindustrie in der Weimarer Republik“, um die „Clearing-Stelle der westlichen Kohle- und Eisenindustrie“. [Siehe Reinhard Neebe: Großindustrie, Staat und NSDAP 1930-1933. Paul Silverberg und der Reichsverband der Deutschen Industrie in der Krise der Weimarer Republik, Göttingen 1981, S. 21 u. 88.] Ihre Tagungen spielten sich im Verborgenen ab, auf den Landsitzen der beteiligten Großindustriellen, teilweise auf dem Jagschloss Blühmbach in der Nähe von Salzburg, das Gustav Krupp von Bohlen und Halbach aus dem Nachlass des im Juli 1914 ermordeten österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand erworben hatte. Insgesamt gehörten nicht mehr als zwölf Persönlichkeiten zu diesem illustren Gremium; außer Thyssen und Krupp waren es unter anderem Paul Reusch, Albert Vögler, Fritz Springorum und Paul Silverberg, von denen noch die Rede sein wird.

Thyssen hatte bereits 1923, im Jahr des Hitler-Ludendorff-Putsches in München, die Bekanntschaft Hitlers gemacht. Im Mai 1930 stellte er ihm 100.000 Mark zur Verfügung. Damit wurde der Ankauf einer repräsentativen Immobilie in München ermöglicht, um hier das „Braune Haus“ als Parteizentrale der Nazipartei einzurichten. Nach den Tagebuch-Aufzeichnungen von Otto Wagener, einem Wirtschaftsberater und engem Vertrauten Hitlers, war Thyssen überdies „der Hauptfinanzier Görings“ [Hitler aus nächster Nähe. Aufzeichnungen eines Vertrauten (Otto Wagener) 1929-1932, hrsg. v. Henry A. Turner, Frankfurt a. M. u.a. 1978, S. 441. Ebenda, S. 390, vermerkt Wagener, dass  Göring, der einen sehr aufwendigen Lebenswandel pflegte, „von der Ruhrindustrie“ monatlich 3.000 Reichsmark zur Verfügung gestellt worden seien. Siehe auch Gustav Luntowski: Hitler und die Herren an der Ruhr, S. 48ff.], den er vorzugsweise „meinen Freund Hauptmann Göring“ nannte. Die entsprechenden finanziellen Transaktionen spielten sich offensichtlich recht unspektakulär ab. Einmal erhielt Göring von Thyssen Bargeld im Restaurant eines seiner Hüttenwerke ausgehändigt, ein anderes Mal entnahm der spätere „Reichsmarschall“ mit Hilfe eines Zweitschlüssels eine größere Summe aus einem Bankschließfach des Ruhrmagnaten. [Siehe Thomas Trumpp: Zur Finanzierung der NSDAP, S. 229.]

Thyssen pflegte „forsch“ aufzutreten und aus seinen extrem reaktionären Überzeugungen kein Geheimnis zu machen. [Goebbels notierte über Thyssen am 18. Januar 1932 in sein Tagebuch: „Er ist der Schneidigste. Und er hat mich sehr gerne. Hat einen klaren Kopf.“ Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte hrsg. v. Elke Fröhlich, Teil I, Bd. II/2, bearb. v. Angela Hermann, München 2004, S. 198.] Großes Aufsehen erregte dieser Ruhr-Magnat, als er am 27. November 1930 bei einer Tagung des Hauptausschusses des RDI den anwesenden Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrum) frontal angriff. Der sensationelle Wahlerfolg der NSDAP lag erst zwei Monate zurück: „Die politische Führung, die wir bisher hatten, war keine glückliche. Man kann sich nicht wundern, wenn angesichts dieser Tatsache eine Bewegung im Reiche entsteht, wie sie sich bei den letzten Wahlen gezeigt hat. Ich möchte nur wünschen, Herr Reichskanzler, dass es Ihnen gelingt, die Bewegung aller nationalen Kreise hinter sich zu ziehen; denn ich glaube, dass erst dann Sie vollen Erfolg mit Ihren Absichten haben werden.“ [Zitiert nach: Reinhard Neebe: Großindustrie, Staat und NSDAP 1930-1933, S. 86. Zur zeitgenössischen Berichterstattung über diesen Vorfall siehe: Der Tag, Nr. 284, 28.11.1930 sowie Berliner Lokal-Anzeiger, Nr. 561, 28.11.1930. Bei dieser Tagung war auch Hans Luther zugegen, der Präsident der Deutschen Reichsbank.]

Neben ablehnendem „Zischen“ vermerkt das Protokoll auch Beifall für diese Ausführungen Thyssens, die eine unverzügliche Regierungsbeteiligung der NSDAP beinhalteten. Doch die Zeit schien dafür noch nicht reif zu sein. Denn der RDI und viele Großindustrielle unterstützten zu jener Zeit noch Heinrich Brüning (Zentrum), der mit Hilfe von Notverordnungen des Reichspräsidenten gemäß Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung regierte und insgeheim anstrebte, die Monarchie mit einem der Enkel Wilhelms II. als neuem „Deutschen Kaiser“ zu restitituieren. [Siehe Heinrich Brüning: Memoiren 1918-1934 (Taschenbuchausgabe), München 1972, Bd. 2, u.a. S. 442, 479f., 542f. u. 551.] Er schien in der Phase der sich zuspitzenden ökonomischen Krise der geeignete Mann zu sein, um die Teilhabe des Reichstages, der Parteien und Gewerkschaften am politischen Entscheidungsprozess entscheidend zurückzudrängen und den Weg in ein autoritäres Regime zu öffnen.

Wirtschaftspolitische Dissonanzen

Die Zeit arbeitete jedoch für die NSDAP. Denn der Wahlerfolg der Faschisten bei den Reichstagswahlen am 14. September 1930 blieb keine Ausnahme. Im Gegenteil: Die Nazis erzielten bei den Landtags- und Kommunalwahlen seit 1929/30 herausragende Ergebnisse, so dass sie mittlerweile in Thüringen (Januar 1930 bis April 1931) und Braunschweig (September 1931 bis Januar 1933) Regierungsverantwortung trugen. Zugleich wurde die NSDAP zu einer mitgliederstarken Massenpartei. Ihre paramilitärischen „Sturmabteilungen“ (SA) wuchsen zu einer wahren Bürgerkriegsarmee heran, die vor allem die Arbeiterorganisationen mit gewaltsamen Aktionen provozierte. In den proletarischen Quartieren der Großstädte, nicht zuletzt in Berlin, wo Gauleiter Goebbels öffentlich das Ziel proklamiert hatte, „der Reichshauptstadt den Charakter einer roten Metroole zu nehmen“ [Der Angriff, Nr. 1, 2.1.1932: „Die zweite Angriffswelle“.], entfachten sie den blutig betriebenen „Kampf um die Straße“. [Siehe hierzu Detlev Schmiechen-Ackermann: Nationalsozialismus und Arbeitermilieus. Der nationalsozialistische Angriff auf die proletarischen Wohnquartiere und die Reaktion in den sozialistischen Vereinen, Bonn 1998; Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln u.a. 2002, 2., durchgesehene Aufl., 2009; Oliver Reschke: Der Kampf der Nationalsozialisten um den roten Friedrichshain (1925-1933), Berlin 2004; derselbe: Der Kampf um die Macht in einem Berliner Arbeiterbezirk. Nationalsozialisten am Prenzlauer Berg 1925-1933, Berlin 2008; Reiner Zilkenat: Die SA – Bürgerkriegsarmee und Massenorganisation des deutschen Faschismus, in: Rundbrief, H. 4/2004, S. 29ff. Zum Gesamtzusammenhang politisch motivierter Gewalt in der Spätphase der Weimarer Republik siehe Dirk Blasius: Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930 – 1933, Göttingen 2005 u.ö.] Anders gesagt: Die SA demonstrierte mit ihren gewalttätigen, vor Morden nicht zurückschreckenden Aktionen, dass Hitler es durchaus ernst gemeint hatte, als er in seiner oben zitierten Rede im „Hamburger Nationalklub“ davon gesprochen hatte, „den Marxismus bis zur letzten Spur auszurotten“.

Spätestens seit den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 und den sich daran anschließenden weiteren Wahlerfolgen sowie dem sich steigerndem Zustrom zu den unterschiedlichen Gliederungen der Nazi-Bewegung wurde unübersehbar, dass es sich bei der NSDAP und ihren „Vorfeldorganisationen“ nicht um kurzlebige Phänomene handelte. Die Haltung großindustrieller Kreise zur faschistischen Partei bedurfte somit – wie schon gesagt – dringend einer Klärung. Dabei existierten vornehmlich drei bedeutsame Probleme.

„Die Sozialisten verlassen die NSDAP!“ (Otto Strasser)

Erstes Problem:  Für Irritationen sorgte die bereits oben angesprochene antikapitalistische Propaganda der faschistischen Partei.

Innerhalb der NSDAP wurden relevante Teile der SA, vor allem aber die Gebrüder Otto und Gregor Strasser, als Exponenten derartiger Stimmungen, als Anführer eines so genannten linken Flügels der Partei identifiziert. [Siehe Reinhard Kühnl: Die nationalsozialistische Linke, S. 248ff. u. 292ff sowie Markus März: Nationale Sozialisten in der NSDAP. Strukturen, Ideologie, Publizistik und Biographien des national-sozialistischen Strasser-Kreises von der AG Nordwest bis zum Kampf-Verlag 1925-1930, Graz 2010, S. 332ff.] Otto Strasser hatte allerdings bereits im Juli 1930 mit der Parole „Die Sozialisten verlassen die NSDAP“ der Partei den Rücken gekehrt [Siehe Der Nationale Sozialist, Folge 110, 3.7.1930: Otto Strasser: „Die Sozialisten verlassen die NSDAP“.] und die „Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten“ gegründet, die aber keinerlei relevanten politischen Einfluss gewinnen konnte. [Siehe Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker: Adolf Hitler. Eine politische Biographie, Leipzig 1999, S. 163ff.; Kurt Gossweiler: Die Strasser-Legende. Auseinandersetzung mit einem Kapitel des deutschen Faschismus, Berlin 1994, bes. S. 18ff. Siehe auch die Materialien zu den „Revolutionären Nationalsozialisten“ um Otto Strasser in: BArch, R 8034 II/8692 u. R 1501/126071a, darunter auch seine Schrift „Ministersessel oder Revolution? Eine wahrheitsgemäße Darstellung meiner Trennung von der NSDAP“, Berlin o.J. (1930).]

Sein Bruder Gregor, der für das vom Reichswehrminister bzw. Reichskanzler Kurt von Schleicher Ende 1932 avisierte „Querfront“-Bündnis [Siehe Axel Schildt: Militärdiktatur mit Massenbasis? Die Querfrontkonzeption der Reichswehrführung am Ende der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. u. New York 1981; Hans Mommsen: Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar, 2. Ausgabe, München 2001, S. 593ff.], bestehend aus der Reichswehr, den Führungen des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) und der Christlichen Gewerkschaften sowie dem „linken Flügel“ der NSDAP, vielleicht angereichert durch das katholische Zentrum und die fast zur Bedeutungslosigkeit herabgesunkene Deutsche Volkspartei, große Sympathien entwickelt hatte, blieb jedoch Mitglied der faschistischen Partei. Als „Reichsorganisationsleiter“ der NSDAP und wirtschaftspolitischer Sprecher im Reichstag war er einer ihrer einflussreichsten Funktionäre, ja er galt nach Hitler als die „Nummer zwei“, potenziell geeignet, dem „Führer“ seinen Rang streitig machen zu können. Mehrfach trat er öffentlich für groß angelegte, vom Staat finanzierte Arbeitsbeschaffungs-Programme zur Überwindung der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise ein. [Siehe Verhandlungen des Reichstags, Bd. 446, 62. Sitzung, 10.5.1932, S. 2510ff., wo er zum Entsetzen der industriellen Helfershelfer der NSDAP „die große antikapitalistische Sehnsucht“ beschwor, „die heute vielleicht schon 95 Prozent unseres Volkes bewusst und unbewusst erfasst hat“ (S. 2511), ferner die Führung des ADGB für ihre Arbeitsbeschaffungsvorschläge ausdrücklich lobte, ja ihnen sogar ein kaum verhülltes Angebot zur Zusammenarbeit unterbreitete (S. 2512) sowie für eine staatliche Kontrolle des Lebensmittelmarktes plädierte (S. 2517). Darüber hinaus steigerte er sich zu der Aussage, dass man bei „Arbeitsbeschaffungsplänen einen Begriff ganz und gar außer Kraft setzen muss, den Begriff der kapitalistischen Rentabilitätsberechnungen. Es darf nicht danach gefragt werden, wie viel von dieser Arbeit dem Geldgeber an Zinsen wieder in die Kasse zurückfließt“ (S. 2519). Auszüge aus Strassers Rede und aus der Replik Rudolf Hilferdings (SPD) finden sich im obigen „Zitatkasten“. Siehe auch Strassers bei Industriellen auf Ablehnung stoßende Rede vom 20. Oktober 1932, die wiederum Vorschläge für staatliche Initiativen und Kontrollmöglichkeiten bei der Bekämpfung der Wirtschaftskrise enthielt: Das wirtschaftliche Aufbauprogramm der NSDAP. Eine Rede Gregor Strassers. Gehalten vor 15.000 nationalsozialistischen Betriebszellenmitgliedern am 20. Oktober 1932 im Berliner Sportpalast, Berlin 1932 (Exemplar in: BArch,  R 1501/126133).] Die Nähe zu zeitgleich entwickelten Vorstellungen des ADGB war unübersehbar und von Strasser bewusst thematisiert worden. [Siehe Michael Schneider: Das Arbeitsbeschaffungsprogramm des ADGB. Zur gewerkschaftlichen Politik in der Endphase der Weimarer Republik, Bonn u. Bad Godesberg 1975; derselbe; Arbeitsbeschaffung. Die Vorstellung von Freien Gewerkschaften und SPD zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise, in: Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik. Materialien zur gesellschaftlichen Entwicklung 1927-1933, hrsg. v. Wolfgang Luthardt, Frankfurt a. M. 1978, 1. Bd., S. 220ff.]

Derartige Anschauungen mussten bei großindustriellen Interessenvertretern auf scharfe Ablehnung stoßen, ging es ihnen Ende 1932 doch gerade darum, den Einfluss des Reichstages und der Gewerkschaften auf den politischen Entscheidungsprozess möglichst dauerhaft auszuschalten und die Rolle des Staates bei der Überwindung der ökonomischen Krisis auf ein Minimum zu begrenzen.

Aus der Rede von Gregor Strasser (NSDAP) im Reichstag am 10. Mai 1932:

„Wenn der Verteilungsapparat des weltwirtschaftlichen Systems von heute es nicht versteht, den Ertragsreichtum der Natur richtig zu verteilen, dann ist dieses System falsch und muss geändert werden um des Volkes wegen. Das Volk protestiert gegen eine Wirtschaftsordnung, die nur in Geld, Profit, Dividende denkt, und die vergessen hat, in Arbeit und Leistung zu denken. Interessant und wertvoll an dieser Entwicklung ist die große antikapitalistische Sehnsucht…, die durch unser Volk geht, die heute vielleicht schon 95 Prozent bewusst und unbewusst erfasst hat. Diese antikapitalistische Sehnsucht ist nicht im Geringsten eine Ablehnung des aus Arbeit und Sparsinn entstandenen sittlich berechtigten Eigentums. Sie hat insbesondere nichts zu tun mit den sinnlosen und destruktiven Tendenzen der Internationale. Sie ist vielmehr der Protest des Volkes gegen eine entartete Wirtschaft, und sie verlangt vom Staat, dass er, um das eigene Lebensrecht zu sichern, mit den Dämonen Gold, Weltwirtschaft, Materialismus, mit dem Denken in Ausfuhrstatistik…bricht und ehrliches Auskommen für ehrlich geleistete Arbeit wiederherzustellen in der Lage ist. (Lebhafte Zustimmung bei den Nationalsozialisten.)

Diese große antikapitalistische Sehnsucht ist ein Beweis dafür, dass wir vor einer ganz großen, vor einer grandiosen Zeitenwende stehen: die Überwindung des Liberalismus und das Aufkommen eines neuen Denkens und einer neuen Einstellung zum Staat. (…)“

Verhandlungen des Reichstags, Band 446, 62. Sitzung, 10. Mai 1932, S. 2511.

Aus der Entgegnung von Rudolf Hilferding (SPD) am 11. Mai 1932:

„Meine Herren Nationalsozialisten, ich habe die Empfindung: wenn Sie so sehr gegen den Liberalismus losziehen, so handelt es sich bei Ihnen nicht um das, worum es sich bei uns handelt. Wir sind Feinde des ökonomischen Liberalismus, wir wollen dieses System der kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft beseitigen; aber wir sind keine Feinde dessen, was seinerzeit der Liberalismus in der Glanzzeit des Bürgertums geistig geschaffen hat. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Ich fürchte, wenn Sie gegen den ‚Liberalismus’ sprechen, dann sprechen Sie zugleich gegen die persönliche Freiheit und die persönliche Selbstbestimmung, dann sprechen Sie gegen die Gewissensfreiheit. Wenn Sie gegen den ökonomischen Liberalismus sprechen, dann glauben Sie, zugleich wieder alles das vernichten zu können, was an den geistigen Errungenschaften der Menschheit in den letzten zwei Jahrhunderten wertvoll ist.(…)

Ich möchte doch einmal fragen, ob die Rede, die Herr Strasser hier in der Öffentlichkeit vor dem deutschen Volke gehalten hat, im Wortlaut oder wenigstens im Sinn mit der übereinstimmt, die Herr Hitler im Industrieklub in Düsseldorf  (am 26. Januar 1932-R.Z.)  gehalten hat. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Ich weiß nicht, was Herr Hitler dort gesagt hat. Aber eines wissen wir. Als Herr Hitler geschlossen hatte, erhob sich Herr Fritz Thyssen, der Sohn eines bedeutenden Vaters und der Erbe eines bedeutenden Vermögens, der Mann, der sich nach den Zuständen vor dem Kriege, die uns von Deutschnationalen so gepriesen werden, zurücksehnt, wo die Gewerkschaften nicht verhandlungsfähig waren, wo jeder Großindustrielle an Ruhr und Rhein Herr im eigenen Hause war, Herr Thyssen, der in Amerika Reden hält, dass das ganze deutsche Unglück von der Sozialpolitik, von der Arbeitslosenversicherung, von den Sozialbeiträgen kommt – das war der Mann, der nach der Rede ‚Heil Hitler’ gerufen hat (Hört! Hört! bei den Sozialdemokraten.)

Deswegen glaube ich: Zwischen dem, was Herr Strasser öffentlich sagt, und dem, was Herr Hitler im Geheimen den Industriellen sagt, wird der Unterschied ebenso groß sein, wie der Unterschied zwischen einem Lohnarbeiter und Herrn Thyssen, dem Aufsichtsratsvorsitzenden des größten deutschen Montanunternehmens. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)“

Verhandlungen des Reichstags, Bd. 446, 63. Sitzung, 11.5.1932, S. 2634f. u.  2637f.

Nach Schleichers Vorstellungen, dessen wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Pläne mit denen Strassers im Wesentlichen kompatibel waren, hätte dieser, nicht Hitler, als Vizekanzler in ein von ihm geführtes Kabinett eintreten können, dem zugleich prominente Exponenten der Gewerkschaften angehören sollten. Alles das ließ das Misstrauen vieler Großindustrieller in die politische Verlässlichkeit der faschistischen Partei nicht ruhen.

Zwar hatten Adolf Hitler, Hermann Göring, Heinrich Himmler und andere maßgebliche NS-Führer stets glaubhaft versichert, dass sie nicht daran dächten, die kapitalistische Gesellschaftsordnung anzutasten und wirtschaftspolitische Experimente gemeinsam mit General von Schleicher, der Gewerkschaftsführung oder anderen politischen Kräften anzustreben. Die pseudo-sozialistische Demagogie sollte nur dazu dienen, „Eroberungen“ innerhalb der Arbeiterklasse und in den verelendeten Kreisen des Mittelstandes zu realisieren. Doch wie sicher konnte man sein, dass sie weiterhin die Richtlinien der Politik innerhalb der NSDAP bestimmen würden? Wer konnte garantieren, dass der bei Partei- und SA-Mitgliedern, aber auch bei manchen führenden Kadern der faschistischen Bewegung subjektiv empfundene Antikapitalismus – unabhängig davon, wie diffus er sich zu artikulieren pflegte – innerhalb der faschistischen Bewegung nicht eines Tages dominant werden könnte?

Exportorientierung, ausländische Kapitalinvestitionen und die Haltung deutscher Konzerne zur NSDAP

Zweitens Problem: Es galt für die Führung der NSDAP, unterschiedliche ökonomische Interessen unter den deutschen Großindustriellen ins Kalkül zu ziehen, die sich auf ihre Abhängigkeit vom Export bezogen, die vor allem, aber nicht nur bei den Metall- und Elektrokonzernen stark ausgeprägt waren. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass einige große Konzerne aus diesen Branchen noch in der ersten Phase der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise bedeutende Exporterlöse und Auftragseingänge aus dem Ausland zu realisieren vermochten und dadurch ihre betriebswirtschaftliche Lage zeitweilig stabilisieren konnten. Exemplarisch seien folgende Sachverhalte genannt:

Im gesamten Maschinenbau stieg bei gleichzeitigem Rückgang der wertmäßigen Ausfuhr von 1928 bis 1933 (1,12 zu 0,53 Mrd. Reichsmark) der Anteil des Exports von 30,2 auf 34,6 Prozent. Speziell bei Werkzeugmaschinen wurden 1933 75,9 Prozent der produzierten Erzeugnisse exportiert, bei Textilmaschinen 54,2, bei Druckmaschinen 47,9 und bei Landmaschinen 19 Prozent. [Siehe Bundesarchiv – Zwischenarchiv Hoppegarten – R 13/III 14, unfol. und ebenda, R 13/XIII 1947, Bl. 18.] Die Bergmann-Elektrizitätswerke sowie Orenstein und Koppel, nach Siemens, AEG und Borsig die größten Werke der Metall- und Elektroindustrie in Berlin, vermeldeten im Frühjahr 1930 eine „Belebung des Auslandsgeschäftes“ bzw. eine Erhöhung des Anteils exportierter Erzeugnisse auf 60 Prozent. [Siehe Vorwärts, Nr. 163, 6.4.1930: „Bergmann-Abschluss“; ebenda, Nr. 179, 16.4.1930: „Konjunktur bei Bergmann. Das Auslandsgeschäft belebt sich wieder.“; ebenda, Nr. 220, 13.5.1930: „Orenstein hamstert Reserven“.]

Die AEG vermochten während des Geschäftsjahres 1929/30 ihre Exporte im Vergleich zum Vorjahr um 8 Prozent zu steigern, so dass mittlerweile beinahe 40 Prozent ihrer Produkte ausgeführt wurden. [Siehe Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 55, 3.2.1931: „AEG 1929/39“.]

Aber auch Unternehmen der Schwerindustrie hingen in ähnlicher Weise von der Ausfuhr ab. So war es z.B. bemerkenswert, dass die im Eigentum der Familie Haniel befindliche Gutehoffnungshütte AG in Oberhausen „1931/32 volle 50 Millionen Mark Auslandsumsatz nach 58 im Vorjahr erzielte, den Auslandsumsatz also viel besser als ihren inländischen verteidigte. 1931/32 verhielt sich bei Oberhausen der Auslandsumsatz zum Inlandsumsatz wie 54 zu 46.“ [Berliner Börsen-Courier, Nr. 534, 14.11.1932: „Belohnte Anstrengung bei GHH“.] Das Beispiel Gutehoffnungshütte belegt: Exportabhängigkeiten auf die Metall- und Elektroindustrie reduzieren zu wollen, ginge an den Realitäten vorbei. Auch Teile der Schwerindustrie waren nicht minder von einer stetigen Ausfuhr ihrer Produkte abhängig. [Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang folgende Passage aus dem Geschäftsbericht der Gutehoffnungshütte für das Geschäftsjahr 1927/28, in dem der Zusammenhang zwischen Sozialabbau bzw. dem Heraushalten des Staates aus der Gestaltung der Volkswirtschaft im Innern und internationaler Wettbewerbsfähigkeit hergestellt wird : „Es ist dringend zu wünschen, dass der Staat sich weiterer Eingriffe in die Wirtschaft enthält. Reich, Länder und Kommunen sollten es vielmehr als ihre erste Aufgabe ansehen, dem Vorgehen der ausländischen Wettbewerbsländer folgend, im eigenen Interesse unsere schwer um ihr Dasein kämpfenden deutschen Schlüsselindustrien auf jede Weise zu stützen und zu fördern, mit dem einzigen Ziel, ihnen ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Auslandsmarkte wieder hu verschaffen. Wir können nur arbeiten und leben, wenn wir zu gewinnbringenden Preisen ausreichend exportieren.“  Zitiert in: Bergwerks-Zeitung, Nr. 270, 16.11.1928: „Der Bericht der GHH“. Hervorhebungen von mir-R.Z.]

Ferner vollzogen sich ausgerechnet im Jahre 1930, dem Jahr des großen Wahlerfolges der NSDAP, noch engere Verflechtungen zwischen großen deutschen Elektrokonzernen und US-amerikanischen Investoren. In Berlin, dem damals wichtigsten Standort der Metall- und Elektroindustrie in Europa, kaufte sich die International Telephone and Telegraph Co. (ITT) bei der Telefonfabrik AG vorm. Berliner ein [Siehe Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 68, 10.2.1930: „Amerikaner übernehmen Telephon Berliner“.] , einem renommierten Hersteller von automatisierten Telefonanlagen. Bei der Standard-Elektrizitäts-Gesellschaft konnte ITT siebzig Prozent des Aktienkapitals von der niederländischen Philipps-Gruppe erwerben. [Siehe Vorwärts, Nr. 212, 8.5.1930: „Lorenz AG deutsch-amerikanisch“;  ebenda, Nr. 284, 22.6.1930: „Großes Geschäft bei Lorenz“; „Neue Elektroindustrie – Konzentrationsvorgänge“, in: Metallarbeiter-Zeitung, Nr. 24, 14.6.1930, Wochenbeilage für die Mitglieder der Verwaltungsstelle Berlin des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, S. 1f.; ebenda, Nr. 30, 26.7.1930, S. 1f.:  „Der Aufbau der International Telephone and Telegraph Company“.] Es kam hinzu, dass für den Siemens-Konzern das Bankhaus Dillon, Read and Co. [Dieses Bankhaus verfügte in Berlin über eine Dependance in der Friedrich-Wilhelm-Straße 11.] eine 14-Millionen-Dollar-Anleihe an der New Yorker Börse mit einer Laufzeit von eintausend (in Worten: eintausend) Jahren auflegte, die eine Verzinsung von mindestens sechs Prozent per anno vorsah. Größter Abnehmer dieser Anleihe war interessanter Weise die General Electric Company, der weltweit größte Konkurrent des Hauses Siemens, an deren Spitze Owen D. Young wirkte. Bei ihm handelte es sich um den ehemaligen Vorsitzenden des Komitees zur Neuregelung deutscher Reparationen, das den nach ihm benannten „Young-Plan“ ausgearbeitet hatte. Insgesamt wurden mit dieser Anleihe, deren für festverzinsliche Wertpapiere vollkommen ungewöhnlicher Ausgabekurs bei fast 250 Prozent lag, dem Siemens-Konzern ca. 150 Millionen Reichsmark neues Kapital zur Verfügung gestellt. [Siehe zu den überaus komplizierten Charakteristika dieser Anleihe den mehrseitigen Verkaufsprospekt der Siemens-und-Halske-AG, in: Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 436, 18.9.1930 sowie Wilfried Feldenkirchen: Siemens 1918-1945, München u. Zürich 1995, S. 393ff. Siehe auch Wochenbeilage für die Mitglieder der Verwaltungsstelle Berlin des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, in: Metallarbeiter-Zeitung, Nr. 8, 22.2.1930, S. 1: „Siemens, General Electric und die Folgen“ und Berliner Tageblatt, Nr. 517, 1.11.1930: „Siemens-Debentures und die Dividendenfrage“.]

Auch bei der AEG war General Electric aktiv. Hier erfolgten 1929 und 1930 die Übernahme von Stammaktien, deren Nennwert insgesamt 30 Millionen Reichsmark betrug, zu einem Kurswert von 200 Prozent. Dafür wurden dem US-amerikanischen Unternehmen fünf Aufsichtsratssitze eingeräumt. Einer der Aufsichtsräte war übrigens Owen D. Young. [Siehe Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 33, 21.1.1930; „AEG 9 Prozent“ sowie Kurt Gossweiler: Großbanken-Industriemonopole-Staat. Ökonomie und Politik des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1914-1932, Berlin 1971, S. 330f.] 1931 erfolgte durch die AEG und General Electric die Gründung einer gemeinsamen Verkaufsgesellschaft und die Beteiligung an einer Firma für elektrotechnische Produkte in Spanien. [Siehe Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 474, 14.10.1931: „Gemeinschaftsgründung der AEG in Spanien“.] Weiterhin erwarb General Electric auch die Aktienmajorität beim Berliner Elektrounternehmen Mix & Genest, das unter den Schirm der deutschen GEC-Holding Standard Elektrik geholt wurde. [Siehe Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 53, 1.2.1930: „Die AEG im Jahre 1929/30“.]

Alle diese Aktivitäten führten zu wütenden Reaktionen bei Carl-Friedrich v. Siemens, der seinem deutschen Hauptkonkurrenten in aller Öffentlichkeit nichts weniger als den „Ausverkauf“ deutscher Interessen und die Organisierung einer „Überfremdung“ der deutschen Elektroindustrie vorwarf; ein ungewöhnliches Verhalten, das ein anhaltendes Echo in den Medien und nicht minder scharfe Reaktionen des AEG-Vorstandes unter der Leitung seines Vorsitzenden Hermann Bücher auslöste, der ebenso wie Siemens dem Präsidium des Reichsverbandes der Industrie angehörte und einer der engsten Vertrauten Heinrich Brünings war. [Siehe die ausführliche Dokumentation des entsprechenden Presse-Echos in: BArch, R 8128/2068, Bl. 169ff.]

Angesichts derartiger Aktivitäten des US-amerikanischen Kapitals war es verständlich, dass die Wahlerfolge der NSDAP und die dadurch immer instabiler werdende innenpolitische Lage in Deutschland, zeitweilig zu großen Irritationen bei den führenden Repräsentanten der Industrie und der Banken in den Vereinigten Staaten, aber auch in anderen Ländern führten. So verlor die Reichsbank nach dem erdrutschartigen Wahlsieg der Nazis vom 14. September 1930 innerhalb weniger Tage Devisen und Gold in der Größenordnung mehrerer Hundert Millionen Reichsmark. [Siehe BArch, R 3101/631, Bl. 328ff.: Wochenübersichten der Deutschen Reichsbank für das Reichswirtschaftsministerium, die Aktiva und Passiva der Reichsbank betreffend. Zwischen dem 1.7. und dem 15.10.1930 reduzierte sich der Bestand an Gold und Devisen wertmäßig von 2,62 auf 2,18 Milliarden bzw. von 459 auf 174 Millionen Reichsmark.] Auch danach war die Verunsicherung vor allem US-amerikanischer Investoren, angesichts der scheinbar unaufhaltsamen Erfolge der Nazis, mit Händen zu greifen. Dies galt um so mehr, als an der Wall Street seit Mitte der zwanziger Jahre zahlreiche Anleihen für deutsche Unternehmen, darunter auch im Auftrag von schwerindustriellen Konzernen wie den Vereinigten Stahlwerken [So hatten z.B. die Vereinigten Stahlwerke im Juni 1926 sowie im Juli und im August 1927 über das Bankhaus Dillon, Read u. Co. Anleihen in Höhe von insgesamt 64,225 Millionen US-Dollar platziert. Dafür waren an die Anleihe-Gläubiger jährlich etwa 4 Millionen US-Dollar an Zinsen zu bezahlen. Siehe hierzu Harald Wixforth: Banken und Schwerindustrie in der Weimarer Republik, Köln u.a. 1995, S. 493ff. Weitere Emissionen von Unternehmens-Anleihen schwerindustrieller deutscher Firmen an der Wallstreet waren mit Hilfe US-amerikanischer Banken u.a. für die Gelsenkirchener Bergwerks AG, die Friedrich Krupp AG, die August-Thyssen-Hütte, die Harpener Bergbau AG und die Gutehoffnungshütte organisiert worden.], von Banken [So hatten sich z.B. am New Yorker Kapitalmarkt die Deutsche Bank im September 1927 mit 25 Millionen Dollar und die Commerzbank im Oktober des gleichen Jahres mit 20 Millionen Dollar frischen Kapitals versorgt.] sowie öffentlichen Körperschaften emittiert worden waren [Siehe Robert Kuczynski: Wallstreet und die deutschen Anleihen. Bankierprofite und Publikumsverluste, Berlin 1933, wo auf den S. 12ff. eine Auflistung aller deutschen Anleihen, die an der New Yorker Börse gehandelt wurden, einschließlich Höhe des aufgenommenen Kapitals, Name der konsortialführenden Bank, Laufzeit und Höhe des Zinssatzes, erfolgt.], auf deren Rückzahlung und die jährlich fälligen Zinszahlungen die vornehmlich US-amerikanischen Investoren selbstverständlich größten Wert legten. Eine Reichsregierung mit der Beteiligung der NSDAP schien ihnen jedoch ein großes Risiko für die Zuverlässigkeit des Kapitaldienstes darzustellen. Doch diesen Stimmungslagen wurde von prominenter Seite entgegengewirkt.

Der Delegierte der Aufsichtsräte der Siemens-Schuckert- und der Siemens-und-Halske-Werke [Die damalige Funktion des Delegierten eines Aufsichtsrates ist nach heutigem Aktienrecht nicht zulässig. Sie bedeutete, dass diese Person nicht nur den Vorstand zu kontrollieren, sondern selbst geschäftsführende Kompetenzen zuerkannt bekommen hatte.], Carl-Friedrich von Siemens, zugleich Präsidiums- bzw. Senatsmitglied des RDI, Aufsichtsratsmitglied der Vereinigten Stahlwerke AG, hatte sich deshalb bemüht, am 27. Oktober 1931 in New York, anlässlich eines ihm zu Ehren gegebenen Essens, beruhigend auf seine US-amerikanischen Gastgeber von der General Electric Company einzuwirken. Er hob hervor, dass die Nazis ihr „Ziel durch gesetzliche Maßnahmen, d.h. durch den Stimmzettel verwirklichen“ wollten. Er bescheinigte ihnen ferner „Selbstlosigkeit“, und dass bei ihnen „hohe nationale Ideale“ anzutreffen seien. Die „Wurzel der Hitlerschen Bewegung“, so fuhr von Siemens fort, „ist der Kampf gegen den Sozialismus, d.h. gegen den Marxismus“. Am Ende seiner Ausführungen formulierte er dann in dankenswerter Offenheit: „Eines möchte ich noch betonen: wenn die große Mehrzahl nicht nur der deutschen Geschäftsleute, sondern auch der Angehörigen aller gebildeten Klassen, viele von Hitlers Methoden verurteilen, so betrachten sie doch das Hitlertum als das kleinere Übel gegenüber dem Kommunismus.“ [Carl F. v. Siemens: Die gegenwärtige Lage Deutschlands. Rede, gehalten auf dem Essen der General Electric Company am 27. Oktober 1931 in New York o.O.u.J. (ein hektographiertes Exemplar fand sich in: Zentrales Staatsarchiv der DDR Potsdam, Büro des Reichspräsidenten, Nr. 296. Zitate: S. 5 u. 7f. Hervorhebung von mir-R.Z. Die Rede ist auszugsweise abgedruckt in: Dokumente zur deutschen Geschichte 1929-1933, hrsg. v. Wolfgang Ruge u. Wolfgang Schumann, Berlin 1975, S. 44f.]

Eine bemerkenswerte Stimme, angesichts des allgegenwärtigen Terrors der SA, in wachsendem Maße auch gegenüber Juden [Siehe Dirk Walter: Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999, S. 200ff.; Cornelia Hecht: Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn 2003, S. 187ff.; Reiner Zilkenat: Der „Kurfürstendamm-Krawall“ am 12. September 1931. Vorgeschichte, Ablauf und Folgen einer antisemitischen Gewaltaktion, in: Rundbrief, H. 2/2011, S. 42ff.], angesichts der von den Faschisten offen angedrohten Willkürmaßnahmen in einem zu errichtenden „Dritten Reich“. [Siehe z.B. Goebbels’ Aussage während einer Massenversammlung im November 1930 im Berliner Sportpalast: „Es ist gefragt worden: Werden Köpfe rollen? Und unsere Antwort lautet: Jawohl. Sie werden einmal ganz verfassungsmäßig und legal rollen.(…)Die Abrechnung wird durch einen ganz legalen Staatsgerichtshof erfolgen.“ Der Angriff, Nr. 100, 22.11.1930: „Freiheitssturm im Sportpalast.“ Der von Januar 1930 bis April 1931 in Thüringen regierende Nazi-Innenminister Wilhelm Frick erklärte auf einer Kundgebung in Wuppertal am 29. September 1931: „Wir Nationalsozialisten werden, falls wir die Macht haben, innerhalb 24 Stunden mit dem roten Mordgesindel aufräumen.“ Völkischer Beobachter, Nr. 275, 2.10.1931.]

Die Nazipartei bemühte sich ihrerseits nach Kräften, ausländischen Unternehmen zu versichern, dass ihre Investitionen in einem von ihnen geführten „Dritten Reich“ absolut sicher wären. So berichtete der US-amerikanische Journalist Hubert R. Knickerbocker in seinem viel gelesen Buch „Kommt Europa wieder hoch?“ Beruhigendes von seiner im Sommer 1932 geführten Unterhaltung mit Gregor Strasser: „Wir erkennen das Privateigentum an. Wir erkennen die private Initiative an…Wir sind gegen die Verstaatlichung der Industrie. Wir sind gegen die Verstaatlichung des Handels.“ So der Originalton des mit antikapitalistischen Tiraden ansonsten  nicht geizenden Strasser. Knickerbocker folgerte durchaus zutreffend, „dass der Kapitalismus von den Nationalsozialisten nichts zu fürchten hat.“ Nach seinem Gespräch mit Strasser sei „von der offiziellen Version (des Programms der NSDAP-R.Z.) nicht viel übrig geblieben. Der nationalsozialistische Radikalismus hat in direktem Verhältnis zur Annäherung der Partei an die Möglichkeit einer Verantwortungsübernahme abgenommen.“ [H. R. Knickerbocker: Kommt Europa wieder hoch? Berlin 1932, S. 205 u. 214.]

Doch ungeachtet solcher Aussagen galt: Solange Hitler nicht die Dissonanzen in den wirtschaftpolitischen Aussagen seiner Partei zweifelsfrei und endgültig ausräumen konnte, blieb die Skepsis vor allem exportorientierter deutscher Unternehmen sowie ausländischer Geschäftspartner und Investoren weiter bestehen. Sie wurde durch das immer wieder in der Parteipresse und durch Parlamentsredner proklamierte Ziel einer faschistischen Wirtschaftspolitik, weitgehende wirtschaftliche Autarkie realisieren zu wollen, noch gesteigert. [Kritisch befasste sich immer wieder Reichsbankpräsident Hans Luther, ganz im Sinne der exportorientierten Industrie, mit den Autarkie-Forderungen der Nazipartei, die übrigens von seinem Amtsvorgänger Hjalmar Schacht weitgehend geteilt wurden. Am 5. Oktober 1932 führte er vor dem Hauptausschuss des Deutschen Industrie- und Handelstages aus: „Wir können nur bestehen, wenn wir wieder einen relativ freien Warenverkehr haben. Wir können als deutsches Volk ohne einen starken Export einfach nicht existieren (Zurufe: Sehr richtig!)“ In dieser Rede trat Luther folgerichtig auch für den Abbau der Zölle und gegen Kontingentierungen im internationalen Handelsverkehr ein. Er hob hervor, dass nach seiner Auffassung gerade die gegenseitige Abschottung der Volkswirtschaften eine der Krisenursachen sei. Siehe BArch, R 2501/7028, Bl. 2 u. 4. Gegen Luthers Anschauungen polemisierte der „Völkische Beobachter“ in mehreren Leitartikeln. Siehe u.a. Völkischer Beobachter, Nr. 233, 20.8.1932: Dr. Herbert Albrecht: „Nationalsozialismus und Autarkie“ u. ebenda, Nr. 264, 20.9.1932: Dr. Rudolf Albert: „Nationale Wirtschaft oder Weltwirtschaft?“.]

Regierungsbeteiligung nur mit Hitler als Reichskanzler

Drittes Problem: Für alle anderen politischen Kräfte war in Rechnung zu stellen, dass die faschistische Partei, die seit den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 die mit Abstand stärkste parlamentarische Kraft im Reich darstellte [Die NSDAP erreichte bei den Wahlen zum Reichstag 37,4 Prozent der Stimmen und stellte mit 230 Abgeordneten die mit Abstand stärkste Fraktion. Auf die SPD entfielen 21,6, auf die KPD 14,5 Prozent der Stimmen und 133 bzw. 89 Mandate.], sowie in den beiden wichtigsten Ländern Preußen und Bayern seit den Landtagswahlen vom 24. April des gleichen Jahres jeweils mehr Mandate erringen konnte als die beiden Arbeiterparteien zusammen genommen [Bei den Wahlen zum Preußischen Landtag erreichte die NSDAP 162 Mandate, die SPD und die KPD entsandten 94 bzw. 57 Abgeordnete. Bei den am gleichen Tag in Bayern durchgeführten Landtagswahlen gewannen die NSDAP 43, die SPD 20 und die KPD 8 Sitze.], den Posten des Reichskanzlers für Adolf Hitler beanspruchte. [Siehe Hitler aus nächster Nähe, S. 474ff.]

Schon im Vorfeld der Reichstagswahlen vom September 1930 hatte Goebbels hierzu selbstbewusst im „Angriff“ formuliert: „Wir gehören zu jener Sorte von Menschen, die, wenn man ihnen den kleinen Finger gibt, bald die ganze Hand haben.“ [Der Angriff, Nr. 50, 22.6.1930: Joseph Goebbels: „Regierungsbeteiligung“.] Als „Juniorpartner“ in ein Kabinett einzutreten und mit dem Amt eines Vizekanzlers abgefunden zu werden, war für die NSDAP und die meisten ihrer Mitglieder und Anhänger zwei Jahre später erst recht undenkbar, auch wenn diese Regierungskonstellation von einigen Vertretern großer Konzerne favorisiert wurde. Aber Hitler war keine Marionette in den Händen der Herren Kirdorf, Thyssen und Co., sondern stellte angesichts des rapide wachsenden Massenanhangs seiner faschistischen Partei selbstbewusst Bedingungen für den Eintritt in eine von ihm geführte Reichsregierung. Dabei schreckten er vor verbalen und die SA auch vor physischen Angriffen gegen potenzielle Bündnispartner wie die Deutschnationale Volkspartei und den „Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten“ keineswegs zurück. [Siehe die Rede von Goebbels während der Versammlung des Landesverbandes Potsdam II der DNVP am 19.10.1932, wo er u.a. ausführte, dass die NSDAP als „Weltanschauungspartei“  einen „Anspruch auf Totalität“ erhebe und dass es das „Verdienst Hitlers“ sei, „Menschen in der NSDAP organisiert zu haben, die nie zu einer bürgerlichen Partei gegangen“ wären, „weil eine bürgerliche Partei in ihrem Auftreten, ihrem ganzen Stil dem inneren Empfinden dieser Menschen diametral entgegengesetzt ist.“ Der Monarchismus der Deutschnationalen könne „nicht ernst genommen werden“. Als Goebbels von der Versammlungsleitung das Wort entzogen bekommt, endet die Veranstaltung in der Neuköllner „Neuen Welt“ im Chaos! BArch, R 8005/60, Bl. 98, 102f. u. 100.  Zu den oft gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der NSDAP/SA und dem Stahlhelm-Bund der Frontsoldaten siehe die Materialien in: BArch, R 1501/126059, 126065, 126183, Bl. 32ff.] Spätestens seit den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932, wenn nicht schon seit der Tagung der Harzburger Front am 10. und 11. Oktober 1931 [Siehe Ursula Büttner: Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933, Bonn 2010, S. 447f.], war unübersehbar, dass die NSDAP ihren Führungsanspruch innerhalb der politischen Rechten kompromisslos geltend machte.  

Was war in dieser Situation zu tun? Um die wirtschaftspolitischen Forderungen der Partei mit den Vorstellungen des Großkapitals in Einklang zu bringen sowie Hitler und die faschistische Partei für den Einzug in die Reichskanzlei vorzubereiten, wurde schließlich ein Kreis prominenter Industrieller und Bankiers aus der Taufe gehoben, die Hitler in diesen Fragen kompetent „beraten“ sollten.

Joseph Goebbels: Goldene Worte für einen Diktator und für solche, die es werden wollen

1. Zu einer Diktatur gehört dreierlei: ein Mann, eine Idee und eine Gefolgschaft, die bereit ist, für Mann und Idee zu leben und, wenn nötig, zu sterben. Fehlt der Mann, dann ist es schlimm, fehlt die Idee, dann ist es unmöglich, fehlt aber die Gefolgschaft, dann ist die Diktatur nur ein schlechter Witz.

2. Eine Diktatur kann zur Not zwar gegen das Parlament, aber niemals gegen das Volk regieren.

3. Auf Bajonetten lässt sich schlecht sitzen.

4. Erste Aufgabe des Diktators ist: das, was er will, populär zu machen und den Willen der Nation mit seinem eigenem Willen in Übereinstimmung zu bringen.

5. Höchste Pflicht des Diktators ist die soziale Gerechtigkeit. Hat das Volk das Gefühl, dass die Diktatur nur die Repräsentanz einer dünnen Oberschicht ist, die mit ihm eigentlich gar nichts zu tun hat, dann wird es den Diktator als feindlich und hassenswert empfinden und ihn über kurzem zum Sturz bringen.

6. Diktaturen werden dann ein Volk retten, wenn sie bessere Wege weisen als die von ihnen bekämpften Regierungsformen, und wenn ihre Macht in breiten Volksschichten so verankert ist, dass sie sich niemals auf die bewaffnete Gewalt zu stützen brauchen, sondern ihren Schutz vielmehr immer in ihren Gefolgschaften finden.

7. Es wird nicht vom Diktator verlangt, dass er sich dem Willen der Mehrheit füge. Aber er muss die Fähigkeit besitzen, sich den Willen des Volkes gefügig zu machen…(…)

9. Diktaturen müssen aus eigenem geistigen Vorrat leben können…(…)“

Der Angriff, Nr. 173, 1.9.1932

Wilhelm Keppler betritt die politische Bühne

Im Mai 1927 wird ein mittelständischer Industrieller Mitglied der NSDAP: Wilhelm Keppler. Fünf Jahre zuvor hatte er in Eberbach am Neckar gemeinsam mit dem weltweit agierenden US-amerikanischen Eastman Kodak-Konzern die Chemischen Werke Odin GmbH gegründet, die sich auf die Herstellung von Fotogelatine spezialisierten. Keppler pflegte freundschaftliche Beziehungen zu Robert Ley, Gauleiter der faschistischen Partei in Rheinland-Süd, dem späteren „Führer“ der „Deutschen Arbeitsfront“, sowie intensiven geschäftlichen Umgang mit dem Kölner Privatbankier Kurt Freiherr von Schröder.

Keppler und Adolf Hitler hatten seit ihrem ersten Zusammentreffen kurz nach dem Parteieintritt des Chemieindustriellen immer wieder miteinander kommuniziert. Auch Heinrich Himmler zählte früh zu den bevorzugten Kontaktpersonen Kepplers aus der faschistischen Parteiführung. Als im Dezember 1931 die Frage zu beantworten war, wer künftig als offizieller Wirtschaftsberater Hitlers fungieren solle, fiel die Wahl auf Wilhelm Keppler.

Hitler übertrug ihm vor allem die Aufgabe, möglichst rasch mit der Konstituierung eines aus prominenten Wirtschaftsführern bestehenden Gremiums zu beginnen, das für die NSDAP und deren „Führer“ nicht nur wirtschaftspolitische Expertisen  ausarbeiten, sondern auch innerhalb der Großindustrie für die Machtübergabe an die Nazipartei Stimmung machen sollte. [Nach der Meinung Otto Wageners konnten die Auffassungen Kepplers „eher als wirtschaftsreaktionär als den sozialistischen Notwendigkeiten entgegenkommend oder sie überhaupt erkennend bezeichnet werden“. Hitler aus nächster Nähe, S. 442.] Bemerkenswerter Weise gab Hitler Wilhelm Keppler den Ratschlag mit auf den Weg, dass er sich um die Theorien des „Braunen Hauses“ nicht zu kümmern brauche, er mithin freie Hand bei seiner Tätigkeit als Leiter des nach ihm benannten Kreises von Industriellen und Bankiers sowie als sein Wirtschaftsberater habe. [Siehe Dirk Stegmann: Zum Verhältnis von Großindustrie und Nationalsozialismus 1930-1933. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der sog. Machtergreifung, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. XIII, 1973, S. 426f.] Außerdem galt es, die wirtschaftspolitischen Kompetenzen innerhalb der NSDAP neu zu ordnen. Keppler schaffte es, die Vorgaben Hitlers zu erfüllen. Allerdings musste er sich zunächst eines „Konkurrenzunternehmens“ erwehren.

Hjalmar Schacht, von 1923 bis 1930 Präsident der Deutschen Reichsbank, zuvor tätig als Vorstandsmitglied der Dresdner Bank bzw. der Darmstädter und Nationalbank, Ende 1923 zum Reichswährungskommissar berufen, hatte sich Hitler in einem vertraulichen Schreiben vom 12. April 1932 erfolgreich angedient, unter seiner Leitung eine „Arbeitsstelle“ einzurichten, da sich „bei gemeinsamer Arbeit eine völlige Übereinstimmung zwischen den Grundanschauungen des Nationalsozialismus und der Möglichkeit privater Wirtschaft erzielen lässt.“ [Zitiert nach ebenda, S. 450.] Schachts Arbeitsstelle, für deren Finanzierung bereits Gelder von potenten Herren der Großindustrie eingesammelt worden waren [Siehe ebenda, S. 425f. Zu den Finanziers der „Arbeitsstelle Schacht“, die ihre Räumlichkeiten am Schöneberger Ufer 39 in Berlin bezog, gehörten Schacht, Thyssen und Vögler sowie Paul Reusch, Vorstandsvorsitzender der Gutehoffnungshütte in Oberhausen und Präsidiumsmitglied des RDI, sowie Fritz Springorum, Vorstandsvorsitzender der Hoesch AG. Insgesamt waren 27.000 RM zur Verfügung gestellt worden.], und Kepplers Industriellen-Kreis beendeten nach Hitlers Intervention rasch ihr Konkurrenzverhältnis, so dass am Ende offenbar der Keppler-Kreis der maßgebliche Ort darstellte, an dem das wirtschaftspolitische Handeln der NSDAP koordiniert wurde. [Siehe Gustav Luntowski: Hitler und die Herren an der Ruhr, S. 75ff.] Hjalmar Schacht war Hitler zum ersten Mal am 5. Januar 1931 in der pompösen Wohnung Hermann Görings in der Badenschen Straße 7 in Berlin-Schöneberg begegnet, wo man sich „zwanglos“, gemeinsam mit Fritz Thyssen, Joseph Goebbels und deren Ehefrauen, zum Essen eingefunden hatte. [Siehe Christopher Kopper: Zwischen Marktwirtschaft und Dirigismus. Bankenpolitik im „Dritten Reich“ 1933-1939, Bonn 1995, S. 24f.] Der ehemalige Reichsbankpräsident zeigte sich vom „Führer“ der faschistischen Partei stark beeindruckt und zählte seitdem zu ihren aktiven Förderern. Am 12. Oktober 1931 sorgte Schacht während der „Harzburger Tagung“ der faschistischen und extrem-reaktionären Organisationen und Persönlichkeiten – darunter die NSDAP mit Hitler an der Spitze, der Stahlhelm mit seinen „Bundesführern“ Franz Seldte und Theodor Duesterberg, der DNVP-Vorsitzende Alfred Hugenberg, einige Hohenzollern-Prinzen und mehrere ehemalige hohe Generäle – für großes Aufsehen, da er in einer aggressiven Ansprache die Regierung Brüning ungewöhnlich scharf attackierte und die bevorstehende Zahlungsunfähigkeit Deutschland infolge einer vollkommen verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik prognostizierte. [Siehe ebenda, S. 26f. Schachts Rede ist abgedruckt in: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, hrsg. v. Herbert Michaelis u. Ernst Schraepler, 8. Bd., Berlin o.J., S. 367ff.] Diese Ansprache wirkte vor allem im Ausland wie ein Paukenschlag und schürte das Misstrauen der Gläubiger hinsichtlich der Bonität des deutschen Staates. Seitdem galt Hjalmar Schacht als potenzieller Finanzminister in einem Kabinett Hitler oder als designierter Reichsbankpräsident nach einer Berufung Hitlers zum Reichskanzler.

Wer konnte zur Mitarbeit im „Keppler-Kreis“ gewonnen werden?

Genannt sei August Rosterg, Generaldirektor des Deutschen Kalisyndikates und der Wintershall AG, die bei Merkers in Thüringen das größte Kalibergwerk der Welt bewirtschaftete. Wes Geistes Kind dieser Großindustrielle war, demonstrierte er in einem Beitrag für die „Deutsche Bergwerks-Zeitung“, als er seiner Meinung Ausdruck gab, „die Hälfte aller Kranken sind Simulanten“ [Deutsche Bergwerks-Zeitung, Nr. 105, 5.5.1929: „Drehpunkte der deutschen Wirtschaftspolitik“.], so dass drastische Kürzungen der Ausgaben für die Sozialversicherungen gerechtfertigt seien.

Ein weiteres Mitglied des „Keppler-Kreises“ war Ewald Hecker, Sohn des Geschäftsinhabers der Großbank Disconto-Gesellschaft. [Siehe die biographische Skizze von Arnim Plett: Ein Mann (in) seiner Zeit – Ewald Hecker, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Ilseder Hütte (1929-1945), in: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Bd. 86, 2005, S. 109ff.] Dieser außerordentlich umtriebige Industrielle mit einer abenteuerlich anmutenden Vita, ein Duzfreund des vom 1. Juni bis zum 17. November 1932 amtierenden Reichskanzlers Franz von Papen, hatte ursprünglich Karriere als Zivilbeamter in der kaiserlichen Kolonialverwaltung im Fernen Osten und als Generalstabsoffizier gemacht. [Siehe BArch (ehem. BDC), SSO, Hecker, Ewald, 14.10.1879.] Von 1914 bis 1916 war er so genannter Delegierter des Deutschen Roten Kreuzes in den USA, anschließend Stabsoffizier im Range eines Majors in der Armee des Osmanischen Reiches. Hier tat er sich in u.a. in Kämpfen mit britischen Einheiten in Palästina hervor, wofür er hoch dekoriert wurde.. 1918/19 diente er als deutscher Bevollmächtigter im Entente-Hauptquartier in Konstantinopel.

Seit 1923 amtierte er zunächst als Mitglied des Vorstandes, dann als Vorsitzender und Delegierter des Aufsichtsrates der Ilseder Hütte AG in Niedersachsen. [Zu den wichtigsten Kunden, die mit Erzen der Ilseder Hütte beliefert wurden, zählten im rheinisch-westfälischen Industrierevier u.a. die Gelsenkirchener Bergwerks AG, die Gutehoffnungshütte, die Hoesch AG und die Kruppwerke. Siehe Bundesarchiv – Zwischenarchiv Hoppegarten – R 13 I/284, Bl. 168f. Die der Ilseder Hütte gehörenden Gruben bargen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges etwa 300 Millionen Tonnen Eisenerze. Siehe ebenda, Bl. 20.] Zugleich war er als Präsident der Industrie- und Handelskammer zu Hannover tätig und gehörte als stellvertretender Vorsitzender dem Aufsichtsrat der Commerzbank an.

A propos Commerzbank. Mit Friedrich Reinhart, Vorstandsmitglied dieses Kreditinstituts, und Franz Heinrich Witthoefft, Vorsitzender des Aufsichtsrates, war diese Großbank höchst prominent im „Keppler-Kreis“ repräsentiert. Dass Witthoefft darüber hinaus Senator der Freien und Hansestadt Hamburg (von 1928 bis 1931), Vizepräsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, Vorsitzender seines Außenhandelsausschusses, Mitglied der Aufsichtsräte bei der Deutschen Werft in Hamburg und der C. Lorenz AG in Berlin (später: SEL-Standard Electric Lorenz) sowie Inhaber der weltweit engagierten Hamburger Übersee-Handelsfirma Arnold Otto Meyer war, die in China, Südafrika und Lateinamerika insgesamt sechzehn Dependancen des insolventen Stinnes-Konzerns übernommen hatte, diente als weitere Empfehlung für die Zugehörigkeit zum „Keppler-Kreis“.

Friedrich Reinhart von der Commerzbank zeichnete sich vor allem darin aus, dass er von Reichskanzler Heinrich Brüning als „Sachverständiger“ der Reichsregierung während der Bankenkrise im Sommer 1931 berufen worden war. In dieser Eigenschaft hatte er auch an Kabinettssitzungen und vertraulichen Gesprächsrunden teilgenommen. Er galt deshalb als intimer Kenner wirtschafts-, finanz- und außenpolitischer Planungen der Reichsregierungen. [Siehe Akten der Reichskanzlei. Die Kabinett Brüning I und II, bearb. v. Tilman Koops, Boppard am Rhein 1982, Bd. 2, u.a. S. 1329, 1331, 1333, 1342, 1480 (Anm. 7), 1555, 1585, 1606 u. 1619; Bd. 3, S. 1841ff. Reinhart trat hier u.a. gegen die Verordnung von „Bankfeiertagen“, die Konstituierung einer eigenständigen Bankenaufsicht und die Neuorganisation des deutschen Bankenwesens auf.] Zudem war er seit 1925 Mitglied des „Engeren Beirates“ der Deutschen Reichsbank und Inhaber zahlreicher Aufsichtsrats-Mandate, zeitweilig waren es mehr als dreißig. In seinen Memoiren behauptet Heinrich Brüning, dass Friedrich Reinhart „Einfluss im Hause des Reichspräsidenten“ [Heinrich Brüning: Memoiren 1918-1934, Bd. 1., S. 411. Ebenda, Bd. 2, S. 483, teilt Brüning seine zutreffende Beobachtung mit, dass Reinhart dem DNVP-Vorsitzenden „Hugenberg und den Nazis persönlich sehr nahestand“. Ebenda, S. 670, nennt er ihn sogar einen „Bewunderer von Hitler“.] ausgeübt habe. Damit umschreibt er die damals ebenso beliebte wie erfolgversprechende Methode, über Paul von Hindenburgs Sohn, den Oberst der Reichswehr Oskar von Hindenburg, dessen Vater für die eigenen politischen Anschauungen und Projekte zu gewinnen.

Aber auch die beiden anderen Großbanken waren mit von der Partie. Für die Dresdner Bank arbeitete Emil Meyer [Zu seiner Biographie siehe Christopher Kopper: Bankiers unterm Hakenkreuz, Hamburg 2005, S. 83ff. Meyer war ein Vetter Wilhelm Kepplers.], Syndikus der Genossenschaftsabteilung, im „Keppler-Kreis“ mit. Die Deutsche Bank bevorzugte den direkten Zugang zu Adolf Hitler, anstatt einen Beauftragten in dieses Gemium zu entsenden.

Emil Georg von Stauß [Zu seiner Biographie siehe ebenda, S. 135ff., wo der Autor einen recht schonenden Umgang mit dem damaligen Chef des größten deutschen Finanzinstituts pflegt. Siehe auch Hans Pohl, Stephanie Habeth u. Beate Brüninghaus: Die Daimler-Benz AG in den Jahren 1933 bis 1945. Eine Dokumentation, 2., durchgesehene Aufl., Stuttgart 1987, S. 42ff.; Harald Wixforth: Emil Georg von Stauß (1877-1942), in: Deutsche Bankiers im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Hans Pohl, Wiesbaden 2008, S. 403ff.], Vorstandsvorsitzender in Deutschlands wichtigstem Finanzinstitut und Vorsitzender der Aufsichtsräte bei Daimler-Benz und BMW, bei der Deutschen Lufthansa und den Bergmann-Elektrizitätswerken, viele Jahre lang Koordinator der von der Deutschen Bank weltweit praktizierten Geschäfte mit dem Erdöl, Mitbegründer der Mitteleuropäischen Schlaf- und Speisewagen AG (Mitropa), Mitglied des Zentralausschusses der Deutschen Reichsbank, ging in Hitlers Berliner Domizil, dem mitten im Regierungsviertel am Wilhelmplatz gelegenen Hotel „Kaiserhof“, ein und aus.

Im September 1930 für die Deutsche Volks-Partei in den Reichstag gewählt, hatte er im gleichen Jahr über Hermann Göring, den er als Lobbyisten für die luftfahrtpolitischen Aktivitäten von Lufthansa gewinnen konnte, erste Kontakte zur faschistischen Partei hergestellt. Bald war er einer ihrer größten Förderer, der immer wieder seine exklusive Dahlemer Villa in der Cecilienallee 14-16 zur Verfügung stellte, um Hitler, Goebbels, Göring und andere Nazi-Größen mit Bankiers, Industriellen und anderen Mitgliedern der „Berliner Gesellschaft“ bekanntzumachen. Aus den Tagebüchern von Joseph Goebbels und von Hitlers langjährigem Wirtschaftsberater Otto Wagener erfahren wir, dass neben Gesprächen in Hitlers Suite im zweiten Stockwerk des Berliner Nobelhotels immer wieder verschwiegene Bootsfahrten auf dem Wannsee mit der Motoryacht des Deutschbankers stattfanden. [Siehe Hitler aus nächster Nähe, S. 455ff. sowie Die Tagebücher des Joseph Goebbels. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte hrsg. v. Elke Fröhlich, Teil I, Bd. 2/II, Juli 1931 – September 1932, bearb. v. Angela Hermann, Berlin 2004, z. B. S. 246 (20.3.1932); S. 342 (16.8.1932); S. 343 (18.8.1932); S. 345 (22.8.1932); S. 363 (13.9.1932).] Wahrscheinlich dürften diese Ausflüge nicht allein der Erholung gedient haben. 1931 ließ der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank der NSDAP zweimal über Hermann Göring private Spenden übermitteln, die der „Essener National-Zeitung“, einer Gazette der Faschisten, zugute kommen sollten. [Siehe Christopher Kopper: Zwischen Marktwirtschaft und Dirigismus, S. 28.]

Stauß hatte seine berufliche Karriere und seinen sozialen Aufstieg vor allem der Heirat mit der Tochter des Admirals Georg Alexander von Müller zu verdanken, einem der einflussreichsten Ratgeber Kaiser Wilhelms II. und Chef seines Marine-Kabinetts. [Siehe Walter Görlitz, Hrsg., Regierte der Kaiser? Kriegstagebücher, Aufzeichnungen und Briefe des Chefs des Marine-Kabinetts Admiral Georg Alexander von Müller 1914-1918, Göttingen 1959; Der Kaiser…Aufzeichnungen des Chefs des Marinekabinetts Admiral Georg Alexander von Müller über die Ära Wilhelms II., hrsg. v. Walter Görlitz, Göttingen 1965.] Über seine Frau verfügte er über Verbindungen zu nach wie vor einflussreichen adligen Kreisen.  

Auch der Vorstandsvorsitzende des Allianz-Versicherungskonzerns, Dr. Kurt Schmitt, zugleich Vorstandsmitglied des RDI, Aufsichtsratsmitglied u.a. bei der Münchner Rückversicherungs-AG, der Bayerischen Vereinsbank, der Hermes Kreditversicherungs-AG und stellvertretender Vorsitzender des Reichsverbandes der Privatversicherer, schätzte Gespräche mit Hitler unter vier Augen im Hotel „Kaiserhof“, das der damaligen Zentralverwaltung der Allianz in der Taubenstraße 1-2 benachbart lag. Als bekennender Antisemit [Siehe hierzu Gerald D. Feldman: Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft 1933-1945, S. 87f.] verstand er sich offenbar prächtig mit dem „Führer“ der faschistischen Partei, der ihn später, am 29. Juni 1933, zum Reichswirtschaftsminister ernannte. In Anwendung des Werbe-Slogans dieses größten deutschen Assekuranz-Konzerns: „Hoffentlich Allianzversichert, wenn der Räuber ‚Geld her!’ schreit“, versprach Kurt Schmitt Hitler bei einer ihrer Zusammenkünfte im Hotel „Kaiserhof“ im Jahre 1931, der NSDAP im Falle eines „Linksputsches“ einen Betrag in Höhe von fünf Millionen Reichsmark zur Verfügung zu stellen. Um die Ernsthaftigkeit dieses Angebotes zu unterstreichen war Schmitt in Begleitung seines Aufsichtsratsvorsitzenden August von Finck erschienen, zugleich Teilhaber des Bankhauses Merck, Finck und Co. sowie Aufsichtsratmitglied u.a. bei der Hermes Kreditversicherungs-AG. Kommentar Hitlers gegenüber Otto Wagener: „Da erkennt man erst, was die Großwirtschaft für eine Macht besitzt. Denn diese Millionen sind Macht. Und wenn sie diese Millionen uns zur Verfügung stellen, dann können sie sie nicht gleichzeitig einer anderen Partei oder Organisation zur Verfügung stellen. Also gegen sie uns ihre Macht!“ [Hitler aus nächster Nähe, S. 373. Hervorhebung im Original-R.Z. Bei diesem Treffen im Hotel „Kaiserhof“ war neben Dr. Schmitz und August von Finck übrigens auch Hjalmar Schacht anwesend.]  

Die Industriellen-Familie Quandt, Großaktionäre bei Daimler-Benz, den Mauserwerken AG und bei Varta, war geradezu ein unentbehrlicher Bestandteil von Hitlers Entourage im „Kaiserhof“. Häufig gab es Gespräche, Ausflüge und gemeinsame Essen. [Siehe ebenda, u.a. S. 373, 375ff. u. 392ff.] Das freundschaftliche Verhältnis zwischen den Quandts und Adolf Hitler wurde noch dadurch enger geknüpft, dass Joseph Goebbels am 19. Dezember 1931 Magda Quandt ehelichte. [Siehe ebenda, S. 395f.] Jetzt zählte diese Großindustriellen-Familie gewissermaßen zur „Verwandtschaft“ des faschistischen „Führers“. Eines Tages meldete sich Harald Quandt, gerade zehn Jahre alt, in Uniform und mit umgeschnalltem Dolch bei Hitler mit den Worten: „Der jüngste Hitler-Junge Deutschlands meldet sich bei seinem Führer!“ [Ebenda, S.374.] Am Rande bemerkt: Herbert Quandt war in der Bundesrepublik einer der wirtschaftlich und politisch einflussreichsten Industriellen. Seine Erben, die etwa die Hälfte des Aktienkapitals der Bayerischen Motorenwerke und weitere bedeutende Industriebeteilungen halten (u.a. Altana, Varta), sind es bis zum heutigen Tag.

Doch zurück zum „Keppler-Kreis“.

Mit von der Partie waren außerdem die schon erwähnten Bankiers Hjalmar Schacht und Kurt Freiherr von Schröder, Mitinhaber des Bankhauses J. H. Stein, verwandtschaftlich der im Investment-Banking engagierten Londoner Schroeder-Bank verbunden, der als einer der eifrigsten Freunde und Förderer Hitlers und der faschistischen Bewegung galt. Schröder hatte übrigens, wie auch die späteren Reichskanzler Franz von Papen und Kurt von Schleicher, während des Ersten Weltkrieges zeitweilig als Offizier im Großen Generalstab gedient. Seine geschäftliche und gesellschaftliche Reputation beruhte nicht zuletzt darauf, verschwägert mit Kurt von Schnitzler zu sein. Von Schnitzler amtierte seit 1926, nachdem er zwei Jahre lang dem Vorstand der Hoechst AG angehört hatte, als Vorstandsmitglied der IG Farben, des damals größten Chemiekonzerns weltweit.

Zu den weiteren Mitgliedern des „Keppler-Kreises“ zählte Rudolf Bingel, Vorstandsmitglied der Siemens-Schuckert-Werke AG, verantwortlich für die Konzern-Bereiche Industrie und Schiffbau. Auch Emil Helfferich, Bruder des während des Ersten Weltkrieges zeitweilig amtierenden Vizekanzlers und Staatssekretär des Innern, Karl Helfferich, Aufsichtsratsvorsitzender der Deutsch-Amerikanischen Petroleum Gesellschaft (D.A.P.G.), war mit von der Partie. Besser bekannt unter dem Namen „ESSO“, handelte es sich hier um eine hundertprozentige Tochter des weltweit größten Mineralölkonterns, der Standard Oil of New Jersey Company, dessen Eigentümer die Familie Rockefeller war. In Deutschland betrug nach einer Analyse der Volkswirtschaftlichen Abteilung der IG Farben vom April 1932 „ihr Anteil am deutschen Geschäft bei Benzin 30 Prozent, bei Gasöl 25 Prozent und bei Bunkeröl 65 Prozent“. [BArch, R 2128/2204, unfol.:  Ausarbeitung „US-amerikanische Erdölinteressen in Deutschland“, 9.4.1932, 6 Seiten, hier: S. 1 u. 4f. Der Börsenwert des Unternehmens wurde in der ebenfalls von der Volkswirtschaftlichen Abteilung der IG Farben formulierten Ausarbeitung „Kapitalbeteiligung der Standard Oil an D.A.P.G.“ mit 65 Millionen Reichsmark angegeben. Siehe ebenda, Bl. 125.] Ferner heißt es hier, dass sich zu Beginn der dreißiger Jahre 75 Prozent der deutschen Erdölraffinationskapazität und 40 Prozent aller Zapfstellen im Besitz der D.A.P.G. befänden, wofür 86,6 Millionen Reichsmark investiert worden seien. Helfferich war außerdem Gründer und langjähriger Geschäftsführer des vor allem in Asien aktiven Pflanzungskonzerns Straits and Sunda Syndicate.

Auch Otto Steinbrinck, Vorstandsmitglied der zum Flick-Konzern gehörenden Mitteldeutschen Stahlwerke AG, in den zwanziger Jahren als Leiter seines Büros „die rechte Hand“ Friedrich Flicks, und Mitglied des Verwaltungsrates der Deutschen Reichsbahn, stieß zum „Keppler-Kreis“.

Zu guter letzt durften Fritz Thyssen und Albert Vögler, Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke AG, Präsidiumsmitglied des RDI, Mitglied des Hauptvorstandes des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller und der Ruhrlade, Aufsichtsratsvorsitzender der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke, der Gelsenkirchener Bergwerks AG sowie der Ruhrgas AG, Aufsichtsratsmitglied u.a. der Siemens-und- Halske- und der Siemens-Schuckert-Werke, der größten deutschen Reederei, der Hamburg-Amerika-Paketfahrt AG (HAPAG), der Bayerischen Vereinsbank, der Deutschen Maschinenbau AG (Demag) und der Nordstern Lebensversicherungs AG, in dieser Runde nicht fehlen. Vögler hatte bereits am 26. März 1926, also in der Zeit der relativen Stabilisierung des Kapitalismus in der Weimarer Republik, in einer Aufsehen erregenden Rede, die er in Berlin während der Tagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie hielt, einen rhetorischen Generalangriff gegen das „Weimarer System“ geführt.

Er trug u.a. vor: „Es geht zurzeit eine wirtschaftsfeindliche Welle über die Lande.(…)Die Staatsmänner und Regierungen sollen nicht den falschen Ehrgeiz haben, wirtschaftliche Aufgaben zu lösen. Sie sollten sich begnügen, das zu erledigen, was ihnen obliegt, die Autorität im Lande aufrecht zu erhalten. Für Zucht und Ordnung sorgen, Leib und Leben und Eigentum schützen und sichern.(…)Wir hoffen, dass jene Periode sozialistisch infizierter Wirtschafts- und Staatspolitik (in der Zeit der Novemberrevolution und danach-R.Z.) endgültig vorbei ist.(…)Der Staat muss alles daran setzen, die private Wirtschaftsform zu schützen und zu fördern. Er muss sie wieder zum ehernen Bestand seiner Wirtschaftspolitik machen.“ [Tagung der Deutschen Industrie in Berlin am 26. und 27. März 1924 (V. ordentliche Mitgliederversammlung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie und der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände), Berlin 1924, S. 33, 35, 36 u. 38.]

Ganze sieben Jahre musste sich Vögler gedulden, bis diese Wünsche ausnahmslos Realität werden konnten.

Schließlich stieß auch Gottfried Graf von Bismarck zum Keppler-Kreis, ein Enkel des „eisernen Kanzlers“. Bismarck bewirtschaftete Ländereien in der Uckermark, hatte aber in den zwanziger Jahren leitende Funktionen bei der HAPAG und in der Geschäftsstelle des RDI in Berlin bekleidet.

Wirtschaftspolitische Neuausrichtung der NSDAP

Der „Keppler-Krei“s kam am 20. Juni 1932 im Hotel „Kaiserhof“ zu einem Treffen mit Adolf Hitler zusammen. Einmal mehr redete der „Führer“ der NSDAP in kleinem Kreis Klartext. Er wolle im vom ihm angestrebten „Dritten Reich“ die Organisationen der Arbeiterbewegung endgültig zerschlagen, die bürgerlichen Parteien verbieten, so dass in Deutschland künftighin nur die NSDAP existieren werde, und mit groß angelegten Rüstungen beginnen. Wie sich Keppler im September 1946 in einer eidesstattlichen Erklärung für das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal erinnerte, erhob niemand aus dem „Keppler-Kreis“ irgendwelche Einwände gegen diese Zielvorstellungen. Im Gegenteil. Man drückte die „Besorgnis aus, dass es ihm nicht gelingen werde, diese hervorragenden Ideen in die Tat umzusetzen.“ [Zitiert nach: Ulrike Hörster-Philipps: Wer war Hitler wirklich? Großkapital und Faschismus 1918-1945. Dokumente, Köln 1978, S.137.]

Der „Keppler-Kreis“ erreichte vor allem, dass wichtige wirtschaftspolitische Erklärungen vorab Hitler vorgelegt werden mussten und damit letztlich der Kontrolle Wilhelm Kepplers unterlagen. Die Parteizentrale in München wurde nach und nach derart umorganisiert, dass leitende Mitarbeiter, deren wirtschaftspolitische Ansichten nicht vollständig den Vorstellungen der Großindustriellen entsprachen, kalt gestellt wurden. [Siehe hierzu u.a die folgenden, besonders informativen Presseartikel: Berliner Tageblatt, Nr. 583, 9.12.1932: „Konflikt Hitler-Strasser“; Vorwärts, Nr. 579, 9.12.1932: „Krach in der Hitler-Partei“; Berliner Tageblatt, Nr. 584, 9.12.1932: „Die Führerkrise in der NSDAP“; Frankfurter Zeitung, Nr. 921, 10.12.1932: „Der Konflikt in der NSDAP“; Berliner Tageblatt, Nr. 585, 10.12.1932: „Die Palastrevolution gegen Hitler“; ebenda, Nr. 588, 12.12.1932: „Mann über Bord“ u. ebenda, Nr. 596, 16.12.1932: „Hitlers Hausmacht“.]

Das betraf vor allem Gregor Strasser, der endgültig im Dezember 1932 seinen politischen Einfluss verlor und von allen Parteiämtern zurücktrat, aber auch Gottfried Feder, den Autor des Parteiprogramms von 1920 [Siehe Gottfried Feder: Das Programm der N.S.D.A.P. und seine weltanschaulichen Grundgedanken, 41.-50. Aufl., München 1931, bes. S. 28ff. (zur „Brechung der Zinsknechtschaft“), S.35f. (wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Grundsätze); 45ff. (ausführliche Erläuterungen zu den wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Zielen der Nazipartei). An mehreren Stellen dieses vor antisemitischen Tiraden nur so strotzenden Textes ist   unterschiedslos z.B. von „dem“  Bankkapital (S. 45ff.) und „den“ Warenhäusern (S. 47f.) die Rede.] sowie Hitlers langjährigen Wirtschaftsberater Otto Wagener, der eine Neuorganisation des Staates und der Volkswirtschaft nach ständischen Modellen, aber auch die Verstaatlichung des Bankwesens favorisierte. [Siehe Hitler aus nächster Nähe, S. 217 u. zu seiner Abberufung, die er als Bitte um seine Entlassung schildert, ebenda, S. 475ff. Siehe auch Christopher Kopper: Zwischen Marktwirtschaft und Dirigismus. Bankenpolitik im „Dritten Reich“ 1933-1939, Bonn 1995, S. 21f.]

Seit Dezember 1932 führte Walther Funk, der ehemalige Chefredakteur der „Berliner Börsen-Zeitung“, hier die Geschäfte eines Leiters der Kommission für Wirtschaftspolitik. Bereits im Juni des gleichen Jahres war er von Hitler „für das Gesamtgebiet der Wirtschaft dem Reichsorganisationsleiter“, also Gregor Strasser, „als Berater zur Seite gestellt“ [Der Angriff, Nr. 125, 16.6.1932: „Anordnungen der Reichsleitung der NSDAP“. Zur Entmachtung von Gregor Strasser und Gottfried Feder siehe die ausführliche Darstellung bei Avraham Barkai: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Ideologie, Theorie, Politik 1933-1945, Frankfurt a.M. 1988, S. 34ff.;  Joachim Petzold: Die Demagogie des Hitlerfaschismus. Die politische Funktion der Naziideologie auf dem Wege zur faschistischen Diktatur, Berlin 1982, S. 364ff. Siehe auch Dirk Stegmann: Zum Verhältnis von Großindustrie und Nationalsozialismus 1930-1933, S. 429ff.] worden. Wie Christopher Kopper schreibt, bildete Walther Funk „innerhalb der NSDAP als zunehmend stärkeres ideologisches und personelles Gegengewicht gegen die programmatische und organisatorische Dominanz Strassers“. Er habe „durch seinen Einfluss auf Hitler zu einem Kurswechsel der Parteiführung auf eine großunternehmensfreundlichere Linie“ [Christopher Kopper: Zwischen Marktwirtschaft und Dirigismus, S. 29.] beigetragen.

Funk hatte sich bei den Herren der Großindustrie und der Banken mit seinen „schwungvoll“ formulierten Leitartikeln einen Namen gemacht, in denen er gleichermaßen einen nachhaltigen Demokratie- wie den massiven Sozialabbau propagierte, aber auch, wenn es nötig schien, die Führung der NSDAP ermahnte, den antikapitalistischen Phrasen nur eine propagandistische Funktion zuzuweisen. [Einige seiner wichtigsten Leitartikel waren: „Deutschlands wirtschaftliche und soziale Erneuerung“, in: Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 207, 5.5.1929, wo es u.a. hieß: „Der neuzeitliche, sozial gebundene Kapitalismus will auch nur verdienen, um der Allgemeinheit zu dienen.(…)Der Gesunde zahlt heute für den Kranken, der Starke für den Schwachen, der Fleißige für den Faulen…So entsteht geradezu eine Rentenhysterie im deutschen Volk.“ –   „Heraus aus dem Wirtschaftselend!“, in: ebenda, Nr. 511, 1.11.1929, wo Funk u.a. ausführte: „Die Stunde des deutschen Bürgertums ist gekommen. Wird der Zeitpunkt für ein entschiedenes Handeln verpasst, so wird er vielleicht nicht wiederkehren, denn starke, antibürgerliche Strömungen sind in Deutschland lebendig. (…)Deutschland hat sich kapitalistisch schwer versündigt, und das Vertrauen des Kapitals wird erst wieder einkehren, wenn es die Sicherheit hat, dass es in Deutschland Schutz findet und dass es in der deutschen Wirtschaft rentabel arbeiten kann.(…)Wer die Gesundung der deutschen Wirtschaft, wer heraus aus dem Wirtschaftselend will, muss hinein in die bürgerliche, in die kapitalistische Einheitsfront.“ –  „Der Weg zur wirtschaftlichen und finanziellen Gesundung und Befreiung in Deutschland und in der Weltwirtschaft“, in: ebenda, Nr. 95, 26.2.1930. Hier rechtfertigte er die Kapitalflucht aus Deutschland gegenüber daran laut gewordener Kritik mit folgenden Formulierungen: „Und wenn heute das deutsche Kapital ins Ausland flüchtet und dort bei 4%iger Verzinsung Anlage sucht, während in Deutschland 8-, 10- und mehrprozentige Verzinsungsmöglichkeiten vorhanden sind, so muss man diesen Leuten immer wieder sagen, dass auch sie einem Trugschluss zum Opfer fallen, denn wenn unsere erstklassigen Anlagen in Deutschland nicht mehr sicher sind, dann ist auch das Leben in Deutschland nicht mehr sicher!“ –  „Wirtschaft und Politik. Was die Wirtschaft von der neuen Regierung verlangen muss“, in: ebenda, Nr. 153, 1.4.1930. Hier wirbt Funk offen für die Einführung diktatorischer Verhältnisse: „Die wirtschaftlichen Probleme in Deutschland sind so schwierig, und von so schicksalhafter Bedeutung, dass sie nur von einer starken, durch Parteirücksichten nicht gehemmten Regierungsgewalt und nur ganz systematisch und rigoros von einer zentralen Macht- und Kraftstelle aus gelöst werden können.“ –  „Der Kampf um Deutschlands wirtschaftliche und soziale Erneuerung“, in: ebenda, Nr. 555, 28.11.1930. Funk ergreift in diesem Leitartikel – wenn auch verklausuliert – die Partei Hitlers und der NSDAP. Er schreibt u.a.: „Wir denken und handeln in Deutschland heute im allgemeinen nur noch in Gremien, Kollegien, Organisationen und Parteien. Es darf aber in Deutschland nur eine Organisation geben, nämlich den sozialen Staat mit frei schaffenden, sich selbst und der Gesamtheit voll verantwortlichen Volksgenossen, und es darf nur eine Partei in Deutschland geben, nämlich die Partei der nationalen Freiheit und Würde.(…)Dem Manne, der das Ziel der deutschen Befreiung klar aufzeigt und unnachsichtig verfolgt, und der mit dem Willen zur Tat auch den Willen zur Macht verbindet, wird das Volk über die Parteien hinweg Gefolgschaft leisten. Möge dem deutschen Volke dieser Führer erstehen, ehe es zu spät ist.“ Die Inhalte dieser und vieler anderer, ähnlich argumentierender Leitartikel qualifizierten Funk zum Leiter aller Wirtschaftsabteilungen der National-„sozialistischen“ Deutschen „Arbeiter“partei!]  Wie Manfred Asendorf schreibt, wurde Funk „von der Ruhrindustrie in die Umgebung Hitlers geschleust, um dem Parteiführer gleichsam die schwerindustriellen Korsettstangen einzuziehen“. [Manfred Asendorf: Hamburger Nationalklub, Keppler-Kreis, Arbeitsstelle Schacht und der Aufstieg Hitlers, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 2. Jg., 1987, H. 3, S. 128.] Otto Wagener attestierte Funk interessanter Weise, er sei „kein Nationalsozialist“, sondern ebenso wie Keppler, „von Natur aus Wirtschaftsliberalist.“ [Hitler aus nächster Nähe, S. 479.] In seiner Vernehmung während des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses antwortete Walther Funk im Übrigen auf eine entsprechende Frage des US-amerikanischen Anklägers wahrheitsgemäß, der „Verbindungsmann zwischen der Nazi-Partei und den großen Geschäftsleuten in Deutschland gewesen zu sein.“ [Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Bd. XIII, S. 161f.] Funk erhielt regelmäßig 3.000 Reichmark monatlich und größere Summen für spezielle Zwecke vom Bergbauverein, einem einflussreichen Interessenverband der Montanindustrie an Rhein und Ruhr, sowie von Albert Vögler und Fritz Springorum, von dem noch die Rede sein wird, zur Verfügung gestellt. [Siehe Gustav Luntowski: Hitler und die Herren an der Ruhr, S. 49f.]

Zu den Beziehungen der IG Farben zur Nazipartei

Der seinerzeit größte Chemie-Konzern der Welt und das bedeutendste Unternehmen in Deutschland waren jedoch nicht die Vereinigten Stahlwerke oder die Siemens AG, sondern die 1925 gegründeten IG Farben. Ihr Aktienkapital betrug die für damalige Verhältnisse unvorstellbar hohe Summe von mehr als 1,1 Milliarden Reichsmark. Allerdings sei an dieser Stelle erwähnt, dass die IG durch ihr Aktienpaket an den Rheinischen Stahlwerken zu den Miteigentümern der Vereinigten Stahlwerke AG gehörten und somit als Konzern durchaus auch ökonomische Interessen im schwerindustriellen Sektor geltend machten. [Siehe Harald Wixforth: Banken und Schwerindustrie in der Weimarer Republik, Köln u.a. 1995, S. 453ff. „Rheinstahl“ brachte allerdings nicht alle seine Betriebe in die vereinigten Stahlwerke ein. Ihr Anteil an den Vereinigten Stahlwerken betrug 8,5 Prozent, was einem Aktienwert von 68 Millionen Reichsmark entsprach. Insgesamt betrug der Aktienwert des Unternehmens Ende 1927 150 Millionen Reichsmark. Siehe ebenda, S. 547.]

Gegenüber der Öffentlichkeit demonstrierte dieser Industriegigant seine Bedeutung auch dadurch, dass er in Frankfurt am Main von 1928 bis 1931 durch den renommierten Architekten Hans Poelzig das damals größte Bürohaus der Welt, einen Gebäudekomplex monumentalen Ausmaßes, errichten ließ. Hier residierte Carl Duisberg, von 1925 bis 1935 der Aufsichtsratsvorsitzende der IG, im Zeitraum von 1925 bis 1931 zugleich Präsident des Reichsverbandes der Deutschen Industrie.

Während der Tagung des RDI im September 1929, die der  Vorbereitung der weiter oben erwähnten Denkschrift „Aufstieg oder Niedergang“ diente, ergriffen zusammen mit Duisberg auch das mit zwei Doktortiteln ausgestattete Mitglied des Verwaltungsrates, W. F. Kalle, und das Direktoriumsmitglied Prof. Dr. Duden, insgesamt drei Repräsentanten des Chemie-Konzerns mit ausführlichen Beiträgen das Wort, deren scharfmacherischen Inhalte den Tenor der zu erarbeitenden Denkschrift bereits erahnen ließen. „Die Überspannung des Gedankens der Sozialversicherung“, so Kalle, „zeigt immer deutlicher, dass das Beste in unserem Volke – der Arbeitswille – bei manchen bereits zu erlahmen beginnt und ein neuer Stand der Rentennutznießer großgezogen wird.“ [Mitgliederversammlung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie am 20. und 21. September 1929 in Düsseldorf, S. 45.] Duden lobte in seiner Ansprache die „magna charta del lavoro“ des faschistischen Italiens, die Streiks strikt untersagte, und deutete damit die Richtung an, in die das Management der IG Farben die politische Entwicklung in Deutschland zu beeinflussen gedachte. [Ebenda, S. 49.]

Währenddessen sang Duisberg in seinem einleitenden Referat das Hohelied des kapitalistischen Herrschaftssystems: „Unser Wirtschaftssystem hat sich bewährt. Das beweist der hohe Lebensstandard unseres Volkes, das Steigen des Reallohns, das beweist der Rückgang der Arbeitslosigkeit seit Beginn des kapitalistischen Zeitalters.“ [Ebenda, S. 21.] Nur wenige Wochen später begann mit dem „Schwarzen Freitag“ an der New Yorker Börse bekanntlich die größte Wirtschaftskrise in der bisherigen Geschichte des Kapitalismus, mit mehr als sechs Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen allein in Deutschland am Ende des Jahres 1932.

Die ersten ernsthaften Kontakte zwischen Repräsentanten der IG Farben und der Führung der NSDAP datieren Mitte/Ende des Jahres 1931, setzten also später ein als die Unterstützung der faschistischen Partei durch Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglieder anderer Großunternehmen. Zwei Anlässe waren ausschlaggebend für die Bereitschaft des Chemiegiganten, sich mit Hitler und den Seinen an einen Tisch zu setzen.

Zum einen war die IG immer häufiger von Nazi-Gazetten ins Visier genommen worden, die dem Konzern bescheinigten, angeblich Bestandteil des internationalen, jüdisch dominierten Finanzkapital zu sein. Die Namen leitender Mitarbeiter, die jüdischer Herkunft waren, mussten als Belege für diese abenteuerliche These dienen, die durch antisemitische Karikaturen („IG Moloch“, „Isidore G Farben“) noch veranschaulicht wurde. Heinrich Gattineau, der Leiter der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit im Konzern, erreichte durch eine Intervention seines ehemaligen Doktorvaters, des mit Adolf Hitler und Rudolf Heß gut bekannten „Geopolitikers“ Prof. Karl Haushofer, die Beendigung derartiger Angriffe. [Siehe Joseph Borkin: Die unheilige Allianz der I.G. Farben. Eine Interessengemeinschaft im Dritten Reich, Frankfurt a.M. u. New York 1979, S. 56.]

Zum anderen war die Ursache für die Kontaktaufnahme zwischen den IG Farben und Hitler handfester Natur. Auf ausdrückliche Anordnung des Vorstandsvorsitzenden Carl Bosch, er hatte übrigens 1931 den Nobelpreis für Chemie erhalten, baten Gattineau und Heinrich Bütefisch, Direktor der Leuna-Werke, Hitler um eine vertrauliche Zusammenkunft, deren genauer Termin nicht mehr exakt rekonstruiert werden kann, die aber im Oktober oder November 1932 stattgefunden haben dürfte. Worum ging es dabei? [Zum Folgenden siehe Helmuth Tammen: Die I. G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft (1925-1933). Ein Chemiekonzern in der Weimarer Republik, Berlin 1978, S. 281ff.; Fall 6. Ausgewählte Dokumente und Urteil des IG-Farben-Prozesses, hrsg. v. Hans Radandt, Berlin 1970, S. 22; Joseph Borkin: Die unheilige Allianz der I.G. Farben, S. 57f. Die von Kurt Gossweiler in seinen Publikationen geäußerten Thesen zu einer engeren Beziehung der NSDAP zu den IG Farben über den studierten Apotheker und späteren „Führer“ der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, sowie den Chemiker Gregor Strasser, die beide in IG-Betrieben tätig gewesen waren, erscheint uns sehr spekulativ und quellenmäßig nicht hinreichend belegt zu sein.]

Die Führung der IG Farben wollte sich vergewissern, ob Hitler im Falle seiner als wahrscheinlich erachteten Kanzlerschaft die Aktivitäten des Konzerns finanziell unterstützen würde, synthetisches Benzin zu produzieren. Bislang waren die Entwicklungs- und Produktionskosten nicht annähernd kostendeckend.

Hier bot sich die künftige politische Orientierung auf die NSDAP an: Die faschistische Partei und ihr „Führer“ propagierten in ihren Publikationen, nicht zuletzt in „Mein Kampf“, die Notwendigkeit eines Revanchekrieges für die im Ersten Weltkrieg erlittene Niederlage. Hierfür stellte die Energieautarkie eine unerlässliche Voraussetzung dar. Da Erdöl nur in geringen Mengen in Deutschland gefördert wurde, fehlte die Voraussetzung, um einen „modernen“ Krieg zu führen: die kontinuierliche Verfügung über große Mengen Benzins. An dieser Stelle, angesichts der Möglichkeiten des Chemiekonzerns, synthetisches Benzin  herzustellen,  hoffte man das Interesse Adolf Hitlers gewinnen zu können. Anders gesagt: Die ökonomischen Interessen der IG Farben und die Kriegspläne Hitlers könnten miteinander eine synergetische Beziehung eingehen.

Das etwa zweieinhalbstündige Gespräch zwischen Hitler, Gattineau und Bütefisch verlief jedenfalls für alle Seiten mehr als nur befriedigend. In seiner Befragung anlässlich des IG-Farben-Prozesses erinnerte sich Bütefisch, dass der Nazi-„Führer“ folgende Gedanken geäußert habe: „Heutzutage sei eine Wirtschaft ohne Öl undenkbar in einem Deutschland, das politisch unabhängig bleiben wolle. Deshalb müsse deutsches Motoröl Wirklichkeit werden, auch wenn das große Opfer erfordere. Es sei deshalb dringend notwendig, die Kohlehydrierung fortzusetzen.“ „Dann scheint ja der Mann (gemeint: Hitler-R.Z.) vernünftiger als ich gedacht habe“ [Zitiert nach Helmuth Tammen: Die I. G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft, S. 284.], resümierte Carl Bosch das ihm überbrachte Ergebnis der Unterredung, bei der sich Hitler übrigens gut informiert über die technischen Probleme bei der Herstellung synthetischen Benzins zeigte.

Dies mag vielleicht daran gelegen haben, dass er sich von führenden Funktionären seiner Partei, darunter dem seit August 1932 als thüringischen Ministerpräsidenten und Innenminister amtierenden Fritz Sauckel, über die Ergebnisse einer Besichtigung der Leuna-Werke informiert hatte, die eigens von der Direktion der IG Farben organisiert worden war.

Wie auch immer: Beiden Seiten war klar, dass die beabsichtigte Hochrüstung des deutschen Faschismus und der Kurs auf einen erneuten Angriffskrieg ohne die aktive Einbeziehung der IG Farben, ihrer Entwicklungs- und Produktionsstätten, vor allem für das synthetische Benzin, nicht möglich waren. Es erscheint deshalb folgerichtig, dass die IG Farben durch ihr Vorstandsmitglied Georg von Schnitzler bei einer Zusammenkunft führender Industrieller im Hause Hermann Görings am 20. Februar 1933, zu der Hjalmar Schacht kurz vor den „Wahlen“ zum Reichstag am 5. März 1933 eingeladen hatte, mit 400.000 Reichsmark den größten finanziellen Beitrag leisteten, um den Sieg der NSDAP sicherzustellen. [Siehe Joseph Borkin: Die unheilige Allianz der I. G. Farben, S. 59.] Ob die IG Farben bereits im Vorfeld der Reichstagswahlen von 1930 und 1932 Spenden von Seiten des Konzerns erhalten haben, ist nicht mit Sicherheit nachzuweisen, zumal die IG offenbar entsprechende Zuwendungen nicht in den entsprechenden Aufstellungen ihrer „Zentralstelle für Spenden-Angelegenheiten“ aufgeführt hat und im Übrigen „kleinere“ Beträge dezentral vergeben wurden. [Siehe Helmuth Temmen: Die I. G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft, S. 284 u. 431f., Anm. 485.]

Wenn auch die IG Farben weder im „Keppler-Kreis“ noch bei den Unterzeichnern der Industriellen-Eingabe an Hindenburg vom 19. November 1932 vertreten waren, so bedeutet das keineswegs, dass sie ernsthaft gegen eine Berufung Hitlers zum Reichskanzler gewesen wären – trotz vieler Vorbehalte, die Carl Bosch angesichts des Antisemitismus der Nazis nicht verschwieg, die ihm den Zorn Hitlers aussetzten und die ihn später in das Umfeld der Verschwörer des 20. Juli 1944 geraten ließen. [Siehe Joseph Borkin: Die unheilige Allianz der IG Farben, S. 59.] Das Beispiel der IG Farben belegt, dass bei der Aufdeckung von Beziehungen der faschistischen Partei zur Monopolbourgeoisie der Blick über den „Keppler-Kreis“ hinausgehen muss.

Die „Industriellen-Eingabe“ an Hindenburg vom November 1932

Im November 1932 schlug dann die Sternstunde dieses Gremiums. Seine Mitglieder sowie weitere führende Repräsentanten der deutschen Industrie- und Bankenwelt, einige mittelständische Unternehmer, darunter der Inhaber der Schreibwaren- und Büroartikelfirma „Pelikan“, Fritz Beindorff, der zugleich dem Aufsichtsrat der Deutschen Bank angehörte und von 1917 bis 1923 der Industrie- und Handelskammer zu Hannover präsidierte, Rudolf Ventzky, Direktor der zum Konzern der Gutehoffnungshütte [Der 1923 konstituierte Gutehoffnungshütte Aktienverein für Bergbau und Hüttenbetrieb Nürnberg diente der Familie Haniel als Holding für ihre einzelnen Unternehmungen: vor allem für die Gutehoffnungshütte AG Oberhausen, die Maschinenfabrik Esslingen, die Deutsche Werft AG und die MAN. Siehe das Material in: BArch, R 8128/2172.] gehörenden Maschinenfabrik Esslingen, die vor allem Lokomotiven, Landmaschinen und Straßenbahnen produzierte, sowie Exponenten der nach wie vor gesellschaftlich und politisch einflussreichen Großgrundbesitzer, unterzeichneten eine Eingabe an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, in der die Übergabe der Regierungsmacht an die faschistische Partei gefordert wurde. Verabschiedet wurde die endgültige Fassung der Petition in den Räumen des Direktionsgebäudes der Commerzbank in der Behrenstraße 46/Ecke Charlottenstraße 47 in Berlin-Mitte am Nachmittag um 15 Uhr des 8. November 1932. Ein historisches Datum, das festgehalten zu werden verdient!

Diese Zusammenkunft fand kurz nach der Niederlage der Nazis bei den Reichstagswahlen am 6. November statt, als die faschistische Partei mehr als vier Prozentpunkte (33,1 zu 37,3 Prozent) und etwas mehr als 2 Millionen Wählerstimmen (11,74 zu 13,75 Millionen) sowie 34 Mandate im Vergleich zu den Reichstagswahlen vom Juli 1932 eingebüßt hatte (196 zu 230). Es schien jetzt Eile geboten, die NSDAP an die Schalthebel der politischen Macht gelangen zu lassen, da der Gipfelpunkt ihrer Entwicklung überschritten zu sein schien. Auch die ökonomische Krisis hatte inzwischen wohl ihren Scheitelpunkt erreicht.

Vor allem sorgte die Haltung der Berliner Gauleitung der NSDAP und der gerade in Berlin überaus aktiven „Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation“ (NSBO) beim am 3. November begonnenen Berliner Verkehrsarbeiterstreik für erneut aufflammendes Misstrauen bei den nazi-freundlichen Industriellen und Bankiers. Denn Gauleiter Joseph Goebbels hatte im „Angriff“ einen Streikaufruf für die Mitglieder und Anhänger der NSDAP publiziert ; zwar streikten Kommunisten und Nazis nicht gemeinsam, aber parallel im weltweit größten kommunalen Betrieb, der Berliner Verkehrs-Gesellschaft (BVG). [Siehe Frank Deppe u. Wittich Roßmann: Wirtschaftskrise, Gewerkschaften, Faschismus. Dokumente zur Gewerkschaftspolitik 1929-1933, Köln 1981, S. 201ff.; Henryk Skrzypczak: „Revolutionäre“ Gewerkschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise – Der Berliner Verkehrsarbeiterstreik 1932, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft 4-5/1983, S. 264ff. Demnächst: derselbe: Der Berliner Verkehrsarbeiterstreik im November 1932. Legenden und Realitäten. Mit einer Einleitung von Reiner Zilkenat, Berlin 2012 (Beiheft Nr. 1 der „Mitteilungen“ des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e.V.).]

Auch Reichspräsident von Hindenburg war irritiert und befragte Adolf Hitler bei einem Gespräch im Reichspräsidenten-Palais über die dieser Entscheidung zugrunde liegenden Motive: „Auf eine Frage des Herrn Reichspräsidenten, warum die nationalsozialistische Bewegung sich bei dem Berliner Verkehrsstreik beteiligt hat, erwiderte Adolf Hitler: ‚Die Leute sind sehr erbittert. Wenn ich meine Leute von der Beteiligung abgehalten hätte, hätte der Streik doch stattgefunden, aber ich hätte meine Anhänger in der Arbeiterschaft verloren; das wäre auch kein Vorteil für Deutschland.“ [Zitiert nach: Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett von Papen, bearb. v. Karl-Heinz Minuth, Boppard am Rhein 1989, Bd. 2, Nr. 208, S. 985.  Hervorhebungen von mir R.Z.]

Eine derartige Aussage, die wahrheitsgemäß Zeugnis von der Doppelbödigkeit der antikapitalistischen Propaganda und sozialen Demagogie der faschistischen Partei ablegt, konnte natürlich nicht öffentlich, sondern nur hinter fest verschlossenen Türen formuliert werden. [Die NSDAP hatte bereits beim Streik der 130.000 Berliner Metallarbeiter im Oktober 1930 eine ähnlich doppelbödige Strategie betrieben wie beim BVG-Verkehrsarbeiterstreik im November 1932. Siehe Reiner Zilkenat: Der Berliner Metallarbeiterstreik 1930 und die Gründung des Einheitsverbandes der Metallarbeiter Berlins (EVMB), Phil. Diss. Berlin 1989, S. 109ff.] Sie dokumentiert im Übrigen das Dilemma der NSDAP-Führung, einerseits von Zeit zu Zeit den Stimmungen ihrer Massenbasis nachzugeben, aber andererseits ihre großindustriellen Protektoren nicht zu verprellen, wenn z.B. die Beteiligung von Nazi-Arbeitern an Arbeitskämpfen außer Kontrolle geraten sollte. Dieser Fall wäre eingetreten, wenn gemeinsame Streikleitungen und Aktionen mit sozialdemokratischen oder kommunistischen Kollegen, gegen den erklärten Willen der Gauleitung, durch die streikenden Nazis praktiziert worden wären. Konnte eine solche Entwicklung angesichts der nicht im Voraus zu kalkulierenden Dynamik, die groß dimensionierten Arbeitskämpfen stets immanent ist, und angesichts der kommunistischen Streiktaktik, durch einheitliche Kampfaktionen die der NSBO angehörenden Arbeiter dem politischen und ideologischen Einfluss der Naziführung zu entreißen, ausgeschlossen werden?

Ohnehin konnten zugespitzte Auseinandersetzungen innerhalb der faschistischen Bewegung jederzeit wieder aufflammen, wie z.B. die „Stennes-Revolte“ der Berliner SA in den Jahren 1930/31 bewiesen hatte. [Siehe derselbe: Die SA – Bürgerkriegsarmee und Massenorganisation des deutschen Faschismus, S. 30f.]

Der Handlungsbedarf für die Herren des „Keppler-Kreises“ war jedenfalls zu Beginn des Novembers 1932 größer denn je. Erarbeitet wurde der Text der Industriellen-Eingabe von Hjalmar Schacht. Unterschrieben hatten diese Petition bzw. sich schriftlich mit ihrem Anliegen einverstanden erklärt, ohne selbst zu unterzeichnen, die bereits genannten Mitglieder des „Keppler-Kreises“. Hinzu kamen mit Paul Reusch und Fritz Springorum zwei weitere führende Repräsentanten der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie.

Reusch, der es gerne hörte, „der Löwe von Oberhausen“ genannt zu werden, gehörte seit 1905 dem Vorstand der Gutehoffnungshütte AG Oberhausen an, den er inzwischen als Vorsitzender leitete. Außerdem amtierte er als Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Werft AG und als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (MAN). [Die Gutehoffnungshütte AG Oberhausen gehörte zur Holding der Industriellen-Familie Haniel, dem Gutehoffnungshütte Aktienverein für Bergbau und Hüttenbetrieb Nürnberg. Auch die Deutsche Werft AG und die MAN waren Unternehmen, die dieser Holding zu- und untergeordnet waren. Siehe BArch, R 8128/2172 und die fast komplette Sammlung der Jahresberichte der Holding sowie der Gutehoffnungshütte in Oberhausen aus der Weimarer Republik sowie aus der Zeit des Faschismus in: ebenda, R 8127/13263, 2 Bände. Im vierzehnköpfigen Aufsichtsrat der Holding waren zu Beginn der dreißiger Jahre nicht weniger als sechs Angehörige der Familie Haniel vertreten, darunter der Aufsichtratsvorsitzende Karl Haniel und seine Stellvertreter Richard und Kurt Berthold Haniel. Siehe Bericht des Vorstandes für das Geschäftsjahr 1931/32, S. 5 (Exemplar in: BArch, R 8127/13263, Bd. 2).] Weitere Aufsichtsratsmandate nahm er u.a. bei der Deutschen Bank, der AEG, der Bayerischen Vereinsbank und bei der Philipp Holzmann AG wahr. Die herausragende Bedeutung dieses Industriellen wird noch durch seine Mitgliedschaft im Präsidium des RDI, in der Ruhrlade und durch seine Funktion als Vizepräsident des Deutschen Industrie- und Handelstages unterstrichen.

Fritz Springorum war seit 1920 Vorstandsvorsitzender der Hoesch AG. Zugleich gehörte er dem Hauptvorstand des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, der Ruhrlade sowie dem Vorstand des RDI an. Zudem wirkte er – als Nachfolger von Paul Reusch – seit 1930 als Vorsitzender des so genannten Langnam-Vereins (Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen), der die Interessen der Industriellen in Rheinland und Westfalen als eine Art „Reichsverband der Deutschen Industrie – Regionalverband an Rhein und Ruhr“ wahrzunehmen wusste.

Besonders wichtig für den Eindruck, den die Eingabe auf Hindenburg hinterlassen sollte, waren die Unterschriften prominenter Großagrarier aus dem Adelsstand. [Zum Verhältnis von bedeutenden Exponenten des Adels, einschließlich ehemals regierender Familien, zur faschistischen Bewegung in Deutschland, siehe Willibald Gutsche u. Joachim Petzold: Das Verhältnis der Hohenzollern zum Faschismus, in: ZfG, 29. Jg., 1981, H. 10. S. 917ff.; Joachim Petzold: Großagrarier-Bauern-NSDAP. Zu ideologischen Auseinadersetzungen um die Agrarpolitik der faschistischen Partei 1932, in: ebenda, ; Willibald Gutsche: Zur Rolle von Nationalismus und Revanchismus in der Restaurationsstrategie der Hohenzollern 1919 bis 1933, in: ebenda, 34. Jg., 1986, H. 7, S. 621ff.; Kurt Gossweiler: Junker und NSDAP 1931/32. Eine Dokumentation, in: derselbe: Aufsätze zum Faschismus, S. 230ff.; derselbe: Junkertum und Faschismus, in: ebenda, S. 260ff. Siehe auch Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Der deutsche Adel und der Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2010.] Hier finden wir den schlesischen Magnaten Eberhard Graf von Kalckreuth, den Präsidenten des Reichslandbundes (RLB), der einflussreichen Interessenorganisation der Großagrarier, denen sich der Reichspräsident verbunden fühlte und für deren Anliegen er stets ein offenes Ohr hatte. Kalckreuth war zudem Mitglied des Zentralausschusses der Deutschen Reichsbank und Aufsichtratsvorsitzender der Deutschen Landwirtschaftsbank AG. Joachim von Oppen-Dannenwalde, Sohn eines Generalleutnants, war Großgrundbesitzer in der Ostprignitz, Aufsichtsratsmitglied der Harkortschen Bergwerke und Chemischen Fabriken AG und seit 1921 Präsident der Landwirtschaftskammer Brandenburg sowie Mitglied des Deutschen Landwirtschaftsrates. Beide Adligen hatten zudem in preußischen Garderegimentern gedient; für den greisen Generalfeldmarschall a. D. von Hindenburg stets ein gutes Argument, um die Ansichten derartiger Herrschaften ernst zu nehmen.

Weiterhin hatte Robert Graf von Keyserlingk die Eingabe unterzeichnet, ein Jurist mit langer Karriere im preußischen Staatsdienst. Unter anderem war er als Referent im Landwirtschaftsministerium tätig gewesen und  avancierte schließlich zum Regierungspräsidenten von Königsberg. Im Weltkrieg hatte er zeitweilig Hindenburgs Stabschef, den General Erich Ludendorff, bei der Lösung volks- und agrarwirtschaftlicher Fragen beraten und als  Kriegskommissar für Litauen und die baltischen Provinzen fungiert. In der Weimarer Republik zählte Graf Keyserlingk zu den Mitbegründern der DNVP, wurde Mitglied des Preußischen Staatsrates und 1921 zum Mitglied des Vorstandes landwirtschaftlicher Arbeitgeberverbände gewählt. 1927 gehörte er der deutschen Delegation bei der Genfer Weltwirtschaftskonferenz an. Schließlich hatte der preußische Junker von Rohr-Manze die Eingabe an Hindenburg unterschrieben, der Vorsitzende des Schlesischen Landbundes.

Für den Reichspräsidenten war ebenfalls wichtig, dass einige der Unterzeichner dem „Stahlhelm-Bund der Frontsoldaten“ angehörten oder sich ihm verbunden fühlten, dessen Ehrenmitglied von Hindenburg war. Mit dem Grafen v. Kalckreuth, Fritz Springorum, Otto Steinbrinck und Dr. Lübbert, einem mittelständischen Unternehmer der Baubranche, der ursprünglich ausgedehnte geschäftliche Aktivitäten in den deutschen Kolonien Südwestafrika und Kamerun entfaltet hatte, gehörten vier Persönlichkeiten, die der Industriellen-Eingabe ihre Zustimmung gegeben hatten, dem Wirtschaftsrat des „Stahlhelms“ an. [Siehe BArch, R 72/308, Bl. 19ff. u. 219.] Paul Reusch hatte im Dezember 1931 seinen formellen Beitritt zum „Stahlhelm“ erklärt. [Siehe Gustav Luntowski: Hitler und die Herren an der Ruhr, S. 53.]

Ohnehin wurden mit größter Selbstverständlichkeit führende Industrielle und Großgrundbesitzer, deren größte Sympathien am Ende der Weimarer Republik Hitler und der faschistischen Bewegung galten, wie z.B. Fritz Thyssen, Albert Vögler, von Rohr-Manze, Fritz Springorum, Emil Kirdorf, Hjalmar Schacht und Emil Georg v. Stauß, seit jeher als Ehrengäste zu Großveranstaltungen des „Stahlhelms“, etwa zu den „Reichsfrontsoldatentagen“, eingeladen. [Siehe BArch, R72/157, Bl. 96ff. Die genannten Personen gehörten zu den Ehrengästen des 12. Reichsfrontsoldatentages des Stahlhelms in Breslau Ende Mai/Anfang Juni 1931.] Zwar waren die Beziehungen Hindenburgs zum „Stahlhelm“ gespannt, seit beim 1. Wahlgang zu den Reichspräsidentenwahlen am 13. März 1932 der 2. Bundesführer dieser „Wehrorganisation“, Oberstleutnant a. D. Theodor Duesterberg, wenn auch erfolglos, gegen Hindenburg ins Rennen geschickt worden war. Dennoch blieb der greise Reichspräsident auch fernerhin dem „Stahlhelm“ als militaristischer und extrem reaktionärer Massenorganisation ehemaliger Frontkämpfer eng verbunden.

Eingabe von Industriellen und Großagrariern an Reichspräsident Paul von Hindenburg vom 19. November 1932, überreicht von Friedrich Reinhart, Vorstandsmitglied der Commerzbank, an den Staatssekretär im Reichspräsidialamt Otto Meissner

„Hochzuverehrender Herr Reichspräsident!

Gleich Eurer Exzellenz durchdrungen von heißer Liebe zum deutschen Volk und Vaterland, haben die Unterzeichneten die grundsätzliche Wandlung, die Eure Exzellenz in der Führung der Staatsgeschäfte angebahnt haben, mit Hoffnung begrüßt. Mit Eurer Exzellenz bejahen wir die Notwendigkeit einer vom parlamentarischen Parteiwesen unabhängigen Regierung, wie sie in den von Eurer Exzellenz Gedanken eines Präsidialkabinetts zum Ausdruck kommt. Der Ausgang der Reichstagswahl vom 6. November d. J. hat gezeigt, dass das derzeitige Kabinett, dessen aufrechten Willen niemand im deutschen Volk bezweifelt, für den von ihm eingeschlagenen Weg keine ausreichende Stütze im deutschen Volk gefunden hat, dass aber das von Eurer Exzellenz gezeigte Ziel eine volle Mehrheit im deutschen Volk besitzt, wenn man – wie es geschehen muss – von der staatsverneinenden Kommunistischen Partei absieht.

Gegen das bisherige parlamentarische Parteiregime sind nicht nur die Deutschnationale Volkspartei und die ihr nahestehenden kleinen Gruppen, sondern auch die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei grundsätzlich eingestellt und haben und haben damit das Ziel Eurer Exzellenz bejaht. Wir halten dieses Ergebnis für außerordentlich erfreulich und können uns nicht vorstellen, dass die Verwirklichung dieses Zieles nunmehr an der Beibehaltung einer unwirksamen Methode scheitern sollte.

Es ist klar, dass eine des öfteren wiederhole Reichstagsauflösung mit sich häufenden, den Parteikampf immer mehr zuspitzenden Neuwahlen nicht nur einer politischen, sondern auch jeder wirtschaftlichen Beruhigung und Festigung entgegenwirken muss. Es ist aber auch klar, dass jede Verfassungsänderung, die nicht von breitester Volksströmung getragen ist, noch schlimmere wirtschaftliche, politische und seelische Wirkungen auslösen wird.

Wir erachten es deshalb für unsere Gewissenspflicht, Eure Exzellenz ehrerbietigst zu bitten, dass zur Erreichung des von uns allen unterstützten Zieles Eurer Exzellenz die Umgestaltung des Reichskabinetts in einer Weise erfolgen möge, die die größtmögliche Volkskraft hinter das Kabinett bringt.

Wir bekennen uns frei von jeder engen parteipolitischen Einstellung. Wir erkennen in der nationalen Bewegung, die durch unser Volk geht, den verheißungsvollen Beginn einer Zeit, die durch Überwindung des Klassengegensatzes die unerlässliche Grundlage für einen Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft erst schafft. Wir wissen, dass dieser Aufstieg noch viele Opfer erfordert. Wir glauben, dass diese Opfer nur dann willig gebracht werden können, wenn die größte Gruppe dieser nationalen Bewegung führend an der Regierung beteiligt wird. Die Übertragung der verantwortlichen Leitung des mit den besten sachlichen und persönlichen Kräften ausgestatteten Präsidialkabinetts an den Führer der größten nationalen Gruppe wird die Schwächen und Fehler, die jeder Massenbewegung notgedrungen anhaften, ausmerzen und Millionen Menschen, die heute noch abseits stehen, zu bejahender Kraft mitreißen.

In vollem Vertrauen zu Eurer Exzellenz Weisheit und Eurer Exzellenz Gefühl der Volksverbundenheit begrüßen wir Eure Exzellenz mit größter Ehrerbietung.

Dr. Hjalmar Schacht, Berlin   Kurt Freiherr von Schröder, Köln   Fritz Thyssen, Mühlheim
Eberhard Graf von Kalckreuth, Berlin   Friedrich Reinhart, Berlin
Kurt Woermann, Hamburg   Fritz Beindorff, Hamburg   Kurt von Eichborn, Breslau
Emil Helfferich, Hamburg   Ewald Hecker, Hannover   Carl Vincent Krogmann, Hamburg
Dr. Erwin Lübbert, Berlin   Erwin Merck, Hamburg   Joachim von Oppen, Dannenwalde
Rudolf Ventzky, Esslingen   Franz Heinrich Witthoefft, Hamburg   August Rosterg, Berlin
Robert Graf von Keyserlingk, Cammerau   von Rohr-Manze
Engelbert Beckmann, Hengstey“

BArch, NS 20/76, Bl. 28f. Auch zitiert in: Eberhard Czichon: Wer verhalf Hitler zur Macht? Zum Anteil der deutschen Industrie an der Zerstörung der Weimarer Republik, 2. Aufl., Köln 1971, S. 69ff. Hervorhebungen von mir – R.Z.

Aus dem Schreiben Friedrich Reinharts an Otto Meissner vom 21. November 1932

„(…)Ich habe den Auftrag, Ihnen, Herr Staatssekretär, namens der Herren Dr. Albert Vögler, Dortmund, Kommerzienrat Dr. Paul Reusch, Oberhausen, Dr. Fritz Springorum, Dortmund, zur Weitergabe an den Herrn Reichspräsidenten mitzuteilen, dass diese Herren grundsätzlich voll und ganz auf dem Boden der Eingabe stehen, aber nicht zu unterzeichnen wünschen, da sie politisch nicht hervortreten wollen. Das Originalschreiben des Herrn Vögler mit entsprechendem Inhalt werde ich morgen vorlegen können. Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung bin ich Ihr ergebenster Friedrich Reinhart.“

Zitiert nach: Eberhard Czichon: Wer verhalf Hitler zur Macht? S. 71f.

Noch zwei Monate sollte es dauern, bis das mit der „Industriellen-Eingabe“ verfolgte Ziel, die Berufung Hitlers zum Reichskanzler durch Paul von Hindenburg, schließlich realisiert werden konnte.

Bei dem fintenreichen Intrigenspiel, in dessen Ergebnis der lange widerstrebende Reichspräsident schließlich Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte, waren die Hauptrollen vor allem Kurt von Schröder, Friedrich Reinhart, Ewald Hecker, Oskar von Hindenburg, dem eingeheirateten Inhaber der Henkell-Sektkellerei und späteren Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop sowie in besonderer Weise dem ehemaligen Reichskanzler Franz v. Papen zugewiesen worden. [Siehe Gustav Luntowski: Hitler und die Herren an der Ruhr, S. 81ff.] Im Hintergrund wirkten die Mächtigen der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie. In der Kölner Villa Kurt von Schröders und im Hause Ribbentrops in der Lentzeallee 9 in Berlin-Dahlem wurden streng vertrauliche Verhandlungen und Gespräche zur Installierung Hitlers als Reichskanzler geführt.

In ihrem Ergebnis wurde das Einverständnis erzielt, Franz v. Papen den Posten des Vizekanzlers zu übertragen, den DNVP-Vorsitzenden Alfred Hugenberg als Reichswirtschafts- und Ernährungsminister und Paul Freiherr v. Eltz-Rübenach als Reichsverkehrsminister zu berufen. Der 1. Bundesführer des „Stahlhelms“ Franz Seldte wurde Reichsarbeitsminister. Die parteilosen Konservativen Lutz Graf Schwerin v. Krosigk und Konstantin Freiherr von Neurath verblieben in ihren Ämtern als Reichsfinanz- bzw. Reichsaußenminister. Das Amt des Reichswehrministers übertrug Hindenburg dem General Werner von Blomberg, einem glühenden Anhänger Hitlers und seiner faschistischen Partei. Neben Hitler war mit Hermann Göring lediglich ein weiteres Mitglied der NSDAP in das Kabinett berufen worden – ohne Portefeuille, aber zugleich mit dem Amt des Preußischen Innenministers versehen.

Über den genauen Hergang der Gespräche, an denen zeitweilig auch Otto Meißner teilnahm, der Staatssekretär Hindenburgs, existieren leider nur lückenhaft Aufzeichnungen und Dokumente. [Siehe z.B. BArch, NS 20/76; Eberhard Czichon: Wer verhalf Hitler zur Macht? S. 41ff. u. 64ff.; Axel Kuhn: Die Unterredung zwischen Hitler und Papen im Haus des Barons von Schröder, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 24. Jg., 1973, H. 12, S. 709ff.; Kurt Pätzold u. Manfred Weißbecker: Geschichte der NSDAP 1920-1945, S. 197ff.; Joachim Petzold: Die Demagogie des Hitlerfaschismus, S. 385ff.; derselbe: Großbürgerliche Initiativen für die Berufung Hitlers zum Reichskanzler. Zur Novemberpetition von 1932 des Keppler-Kreises deutscher Bankiers, Großindustrieller, Überseekaufleute und Großgrundbesitzer, in: ZfG, 31. Jg., 1983, H. 1, S. 38ff. (hier dokumentiert der Autor einige der im BArch, NS 20/76 aufbewahrten, sehr aussagekräftigen Dokumente zu unserer Thematik);  Manfred Asendorf: Nationalsozialismus und Kapitalstrategien, in: 1933 – Wege zur Diktatur. Ausstellungskatalog, (West-) Berlin 1983, S. 165ff.; derselbe: Hamburger Nationalklub, Keppler-Kreis, Arbeitsstelle Schacht und der Aufstieg Hitlers, S. 134ff.] Am Ende waren es wohl vor allem Franz v. Papen und Oskar v. Hindenburg, die beim Reichspräsidenten grünes Licht für die Übertragung der Regierungsmacht an ein von Hitler geführtes Kabinett bewirkten.

Die Nazis hatten jetzt, frei nach Goebbels, „den kleinen Finger“ bekommen, bald hatten sie „die ganze Hand“ ergriffen.  

Zusammenfassung: Neun Thesen zum Abschluss

Erstens

Der „Keppler-Kreis“ stellte – wie Dirk Stegmann schreibt –  einen „halbwegs repräsentativen Querschnitt durch Großindustrie, Handel und Bankwelt“ [Dirk Stegmann: Das Verhältnis von Großindustrie und Nationalsozialismus 1930-1933, S. 428.] dar. Erweitert man den Blick auf die nicht zu diesem Gremium gehörenden Industriellen, Bankiers und Großagrarier, die aber ihre Unterschrift unter die Industriellen-Eingabe an Hindenburg vom 19. November 1932 gesetzt oder sich mit ihr einverstanden erklärt hatten, nimmt man auch die bei Hitler antichambrierenden Herren Schmitz, von Finck und v. Stauß sowie die Quandts und führende Vertreter der IG Farben hinzu, ist dieser Aussage  uneingeschränkt zuzustimmen.

Die von bürgerlichen Historikern wie z.B. Henry Ashby Turner und Christopher Kopper [Siehe Christopher Kopper: Zwischen Marktwirtschaft und Dirigismus, S. 33ff.] vehement vertretene These, es seien im „Keppler-Kreis“ und unter den anderen Industriellen und Bankiers, die Hitler und seine Partei unterstützt hätten, bis auf wenige Ausnahmen keine führenden Persönlichkeiten vertreten gewesen, ist schlicht absurd.

Zweitens

Die Bedeutung der Mitglieder des „Keppler-Kreises“ ergab sich nicht allein wegen ihrer jeweils geschäftsführenden Funktion in großen Konzernen. Sie waren auch anderweitig in leitenden Stellungen tätig – in Aufsichtsräten anderer Unternehmen, häufig als deren Vorsitzende bzw. als Mitglieder ihrer Präsidien; in leitenden Positionen der wichtigsten industriellen Interessenverbände, aber auch in öffentlichen Körperschaften. In schwierigen wirtschafts- und finanzpolitischen Situationen, nicht zuletzt während der Bankenkrise im Sommer 1931, wurden z.B. Vögler, Reinhart und Springorum von Reichskanzler Heinrich Brüning mitunter täglich als Ratgeber in Anspruch genommen. Sie gingen in der Reichskanzlei ein und aus. Einige von ihnen galten als ministrabel. Es handelte sich bei ihnen um großindustrielle Multifunktionäre, die maßgeblich an der Erarbeitung und Umsetzung der unternehmerischen Strategie gegenüber der Reichsregierung, den Parteien und dem Reichstag sowie der Öffentlichkeit und anderen Verbänden, nicht zuletzt den Gewerkschaften, beteiligt waren. Sie waren es gewohnt, erfolgreich an der Schnittstelle zwischen Ökonomie und Politik zu handeln und dabei neben den eigenen ökonomischen Belangen auch das Gesamtinteresse der deutschen Monopolbourgeoisie im Auge zu behalten.

Drittens

Insoweit sie selbst zeitweilig Funktionen in Parteien ausübten, parlamentarische Mandate wahrnahmen bzw. politische Parteien finanzierten, waren ihre diesbezüglichen Mitgliedschaften und Aktivitäten so gut wie nie einseitig und auf Dauer ausgerichtet, sondern von situativen Gesichtspunkten bestimmt. Diese Gesichtspunkte hatten sich an der jeweils für angemessen erachteten Umsetzung von ökonomischen in politische Interessen auszurichten – und diese schienen 1932, zumal nach dem Scheitern des Kabinetts von Papen, zu gebieten, sich jetzt auf die faschistische Partei zu orientieren. Insofern ist es sekundär, dass z. B. Hjalmar Schacht zu Beginn der Weimarer Republik der damals linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei [Siehe Lothar Albertin: Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik. Eine vergleichende Analyse der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Volks-Partei, Düsseldorf 1972, u.a. S. 54f. u. 95f. (Schacht als Mitverfasser des Gründungsaufrufs der DDP vom 16.11.1918 und des Aufrufs der Partei für die anstehenden Wahlen zur Nationalversammlung).] und Ewald Hecker [Hecker war von 1920 bis 1924 für die DVP Mitglied des Preußischen Landtages.], Albert Vögler [Albert Vögler war Mitglied der Nationalversammlung und wurde 1919 auch zum Schatzmeister sowie zum Vorsitzenden der Parteiorganisation der DVP in Westfalen gewählt. Von 1920 bis 1924 gehörte er als Abgeordneter seiner Partei dem Reichstag an. Siehe Lothar Albertin: Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik, S. 99 u. Gustav Luntowski: Hitler und die Herren an der Ruhr, S. 26.] sowie Emil Georg von Stauß der Deutschen Volkspartei angehörten. Ohnehin wurde die Parteienfinanzierung häufig nicht von einzelnen Industriellen, sondern von speziellen, in strikter Vertraulichkeit tagenden Gremien vorgenommen, etwa der Ruhrlade, die in der Regel alle bürgerlichen Parteien und die ihnen jeweils nahestehenden Gazetten mit den nötigen finanziellen Mitteln versorgten. Die hierzu erhalten gebliebenen Schriftstücke bedienen sich häufig eines Vokabulars, das den eigentlichen Zweck dieser Aktivitäten dauerhaft tarnen sollte.

Aus dem Lagebericht des Alldeutschen Verbandes vom 2. Januar 1931 („Vertraulich!“, „Nicht für die Presse!)

„Der wichtigste Vorgang der letzten Wochen spielt sich ohne Auffallen des Einzelereignisses ab: die rasende Steigerung des Tempos, in dem mittellose Massen der NSDAP zuströmen, und die gleichzeitige Hinwendung wirtschaftlich einflussreicher Kreise zur NSDAP.(…)

Prominente Wirtschaftler, die noch vor wenigen Monaten die Nationalsozialisten als ein bedeutungsloses Häufchen von Utopisten und Wirrköpfen verachteten, erblicken heute in den Nationalsozialisten die Macht von morgen, mit der man sich rechtzeitig gut stellen muss; zum Teil erwartet man auch von ihnen die Abwehr der drohenden bolschewistischen Erhebung.“

BArch, R 8048/550, Bl. 1. Autor des Lageberichts ist Dr. Alexander Graf v. Brockdorff.

Hervorhebungen von mir-R.Z.

Aus dem Brief des Präsidenten des Reichslandbundes, Eberhard Graf von Kalckreuth, an Robert Graf von Keyserlingk, Vorstandsmitglied des Verbandes landwirtschaftlicher Arbeitgeberverbände, vom 31. März 1932

„Augenblicklich bekomme ich ziemlich viele Kritiken in der Richtung, …dass unser Eintreten für Hitler eine parteipolitische Bindung bedeute und dass es überhaupt nicht Aufgabe des Landbundes sei, Politik zu treiben, sondern dass es unsere Aufgabe wäre, Wirtschaftspolitik zu treiben. Ich freue mich, dass auch Sie…zum Ausdruck bringen, dass eben doch Situationen eintreten können…, in denen man von einem regierenden Kabinett praktische Arbeit zur Rettung der Landwirtschaft und der deutschen Wirtschaft auch bei größtem Optimismus nicht mehr erwarten kann, und dass es dann nur logisch ist, wenn man in einem solchen Falle zur rein politischen Tätigkeit übergeht und im Rahmen der Möglichkeit sich für die Schaffung eines neuen Kabinetts einsetzt, von dem man praktische Arbeit in letzter Minute zur Rettung der Wirtschaft erhoffen kann.“

BArch, R 8034/I 27, Bl. 6.

Aus dem Brief von Fritz Thyssen an Max Schlenker vom 11. November 1932

„Der Nationalsozialismus kennt nur einen Führer, dessen Gedankengut das Fundament der Bewegung darstellt und der allein berufen ist, über alle Kompromisse und Hindernisse hinweg Deutschland die Staatsform zu geben, die nach menschlichem Ermessen allein imstande ist, dem Umsturz und der Vernichtung der europäischen Civilisation die Stirn zu bieten.

Täuschen wir uns darüber nicht, die Ereignisse sind zu weit vorangeschritten, als ob es noch Möglichkeiten für Kompromisse grundsätzlicher Art gäbe. Das wahre Gedankengut des Nationalsozialismus in die Tat umzusetzen, vermag nur Adolf Hitler. Der letzte Wahlkampf hat bewiesen, welchen Gefahren eine von so hochidealen Motiven getragene Bewegung ausgesetzt ist, wenn die Erörterung der Ziele Gemeingut einer großen Masse wird. Es ist meiner Ansicht nach ganz unverantwortlich, dass man eine solche Bewegung solchen Gefahrnissen aussetzt, die dadurch nur, wie es bei der Reformation geschah, aus ihrem geraden eindeutigen Weg herausgedrängt werden kann.

Einigt man sich auf Hitler als Kanzler – eine andere Lösung würde für seine Anhänger untragbar sein – so glaube ich, rein persönlich gesprochen, dass man sich über die Ziele seiner Politik, wobei meiner Ansicht nach nur die wirtschaftlichen einige Schwierigkeiten bieten, einigen könnte. Hier handelt es sich darum, zu entscheiden.“

BArch, N 2035/2, Bl.130.

Aktennotiz von Franz Bracht, Reichskommissar für das Land Preußen, 15. November 1932

Die finanzielle Lage der westdeutschen Nationalsozialisten hat sich immer mehr zugespitzt. Die SA hat praktisch seit dem Wahltage kein Geld mehr erhalten. Im Augenblick finden interne Verhandlungen der einzelnen Gauführer mit der Industrie statt. Man ist bereit, für eine Unterstützung jede Zusage zu machen. In der Hauptsache gehen diese Zusagen auf eine endgültige Festlegung, sich an keinerlei Arbeitskämpfen oder gar Streiks etc. mehr zu beteiligen. Für diesen Fall hofft man auf neue Geldzuwendungen von Seiten der Gesamtindustrie, vertreten durch diejenige Gruppe, die bisher als Treuhänder für die Zahlungen Industrie/München auftrat.“

BArch, N 2035/2, Bl. 171. Hervorhebungen von mir-R.Z.

Vertrauliches Schreiben von Dr. Scholz, Leiter eines vom Großindustriellen Flick finanzierten Pressebüros, an Dr. Franz Bracht, über die Mitgliederversammlung des Langnam-Vereins am 23. November 1932

„Die Tagung des Langnamvereins in Düsseldorf, die wohl ursprünglich im Rahmen des Papen-Programms und zur Stützung vorgesehen war, ergab anlässlich der zwanglosen Unterhaltung die überraschende Tatsache, dass fast die gesamte Industrie die Berufung Hitlers, gleichgültig unter welchen Umständen, wünscht. Während man noch vor wenigen Wochen Papen zugejubelt hat, ist man heute der Auffassung, dass es der größte Fehler sei, wenn Hitler, auch unter Vorbringung ernster Gründe, nicht mit der Regierungsbildung beauftragt würde.

Dabei scheint es sich weniger um einen Stimmungswandel zugunsten Hitlers als vielmehr um die Auffassung zu handeln, dass um eine Regierung Hitler nicht mehr herumzukommen ist. Unter diesen Umständen müsse man aber den Regierungsantritt Hitlers beschleunigen, auch wenn er sich nicht bewähre, und seine Regierung, wie Skeptiker in der Industrie annehmen, nur wenige Wochen dauert.

Allgemein aufgefallen ist noch, dass die angekündigte Rede von Dr. Silverberg [Paul Silverberg, aus einer jüdischen Familie stammend, war Vizepräsident des RDI, Vorstandsmitglied der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Mitglied der Ruhrlade, Gründer und Aufsichtsratsvorsitzender der Rheinischen Aktiengesellschaft für Braunkohlenbergbau und Brikettfabrikation, dem damals größten und modernsten Braunkohleunternehmen weltweit, Aufsichtratsvorsitzender des Rheinisch-westfälischen Kohlesyndikats und Aufsichtratsmitglied u.a. bei den Vereinigten Stahlwerken, der Gelsenkirchener Bergwerks AG, der Harpener Bergbau AG und bei RWE. Er galt als Finanzier der „Deutschen Führerbriefe“. Lange Zeit hatte er auf eine Zusammenarbeit mit der SPD und dem ADGB auf Reichsebene plädiert, orientierte sich aber offenbar, ungeachtet seiner jüdischen Herkunft, Ende 1932 auf eine Regierungsbeteiligung der Nazis um. Siehe Reinhard Neebe: Großindustrie, Staat und NSDAP 1930-1933.], wie man mitteilte, wegen vorgerückter Zeit, ausfiel. Tatsächlich wurde bereits bei Beginn der Tagung erklärt, dass Dr. Silverberg gegen seinen Willen – seit 14 Tagen – auf die Rednerliste gesetzt worden sei und deshalb nicht sprechen werde. Aus diesen Gründen ist man der Auffassung, dass Silverberg unter den augenblicklichen politischen Verhältnissen zu vorsichtig war, das Wort zu ergreifen, während Luther [Hans Luther, Präsident der Deutschen Reichsbank,von  Januar 1925 bis Mai 1926 Reichskanzler.] sich sehr gut aus der Affäre gezogen hat.

Beachtet wurde schließlich noch, dass die Kandidatur Dr. Schlenkers [Max Schlenker war Hauptgeschäftsführer des Langnam-Vereins und der Nordwestlichen Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller. Er gehörte der Deutschen Volks-Partei an und war Teilnehmer an der Tagung der „Harzburger Front“ am 11. Oktober 1931.] als Wirtschaftsminister auf dieser Tagung von Mund zu Mund propagiert wurde. Für die Nominierung Schlenkers traten vor allem die mehr oder weniger offiziellen Pressevertreter und Presseorgane Dr. Silverbergs ein.“

BArch, N 2035/2, Bl. 164. Vertraulich, empfangen von Bracht am 26.11.1932. Hervorhebungen von mir-R.Z. Auszugsweiser Abdruck auch in: Eberhard Czichon: Wer verhalf Hitler zur Macht, S. 73 u. Ulrike Hörster-Philipps: Wer war Hitler wirklich? , S. 155f.

Viertens

Es sollte bedacht werden, dass für die „Schlotbarone“ neben den ökonomischen Interessen, die sich auf die Lage des eigenen Konzerns bzw. der eigenen Branche bezogen, auch andere bedenkenswerte Motive existierten, um einzelne Politiker und Parteien zu unterstützen, wobei in unterschiedlichen Situationen auch unterschiedliche Haltungen zur NSDAP existierten. Allerdings: Aufgrund ihrer Sozialisation, die sich in der Regel in großbürgerlichen bzw. adligen, konservativen Familien und Milieus vollzogen hatte, verbanden sie keine grundsätzlichen Probleme mit dem Charakter der faschistischen Partei und deren offen erklärten Zielen. Sie waren bereits in der Zeit des wilhelminischen Kaiserreiches von Nationalismus, Antisemitismus, Großmachtchauvinismus, Antidemokratismus und militantem Antisozialismus geprägt worden. Für die Weimarer Republik hatten sie deshalb nur Verachtung übrig. Es zeigte sich: Hitler und der faschistischen Bewegung war in Deutschland lange vorgearbeitet worden. [Siehe hierzu die vorzügliche Analyse des angesichts des „cultural turns“ vollkommen zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Hamburger Historikers Fritz Fischer: Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871-1945, Düsseldorf 1979; derselbe: Hitler war kein Betriebsunfall. Aufsätze, München 1992. Ebenfalls immer noch (besser: wieder) anregend zur „Kontinuitäts-Thematik“: Hans-Jürgen Puhle: Von der Agrarkrise zum Präfaschismus. Thesen zum Stellenwert der agrarischen Interessenverbände in der deutschen Politik am Ende des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1972 (Institut für Europäische Geschichte Mainz, Vorträge Nr. 54).]

Allerdings waren die Auffassungen von Großindustriellen, Bankiers und Großagrariern zur Regierungsfähigkeit der faschistischen Partei, neben anhaltenden Befürchtungen hinsichtlich der als unberechenbar eingeschätzten SA und eines drohenden Bürgerkrieges im Falle der Machtübertragung an die NSDAP, auch von Zweifeln an der „Seriosität“ Adolf Hitlers gekennzeichnet, das Amt des Reichskanzlers der größten Wirtschaftsmacht in Europa angemessen ausfüllen zu können. Deshalb die angestrebte „Einrahmung“ des „Führers“ der faschistischen Partei durch „erprobte“ konservative Politiker und Fachleute unter der Führung Franz von Papens. Allerdings dürfte die Ausschaltung der Exponenten des so genannten linken Flügels der Partei Ende 1932 viele der genannten Vorbehalte gegenüber der NSDAP aus industriellen Kreisen abgemildert, wenn nicht eliminiert haben.

Fünftens

Offenbar hatten sich bei nicht wenigen Mitgliedern des Keppler-Kreises – sowie bei anderen Industriellen und Bankiers in seinem Umfeld – im Verlaufe ihrer Karrieren immer wieder die Wege gekreuzt, existierten auch verwandtschaftliche Beziehungen, Mitgliedschaften in exklusiven Zirkeln (u.a. Deutscher Herrenklub in Berlin [Siehe Joachim Petzold: Konservative Theoretiker des deutschen Faschismus. Jungkonservive Ideologen in der Weimarer Republik als geistige Wegbereiter der faschistischen Diktatur, 2., überarbeitete u. ergänzte Aufl., Berlin 1982, S. 129ff. u. Yuji Ishida: Jungkonservative in der Weimarer Republik. Der Ring-Kreis 1928-1933, Frankfurt a.M. u.a. 1988.], Ruhrlade) sowie parallel verlaufende militärische Karrieren im wilhelminischen Reich, vor allem in den Jahren des Ersten Weltkrieges. Um diese speziellen Beziehungen und Netzwerke unterschiedlichster Art auszuleuchten, deren Bedeutsamkeit gar nicht überschätzt werden kann, sollten zukünftig eingehende Forschungsarbeiten unternommen werden.

Sechstens  

Die wichtigste Trennlinie zwischen den Industriellen und Bankiers, die auf die Konstituierung eines faschistischen Regimes in Deutschland orientierten, bildete die Frage, ob dieser Faschismus „von unten“ oder „von oben“, d.h. mit oder ohne Massenbewegungen, installiert werden sollte. Während des Jahres 1932 existierten diese unterschiedlichen Konzeptionen längere Zeit als „Modell Papen“ [Siehe zur politischen Konzeption Papens und der ihn stützenden Kräfte: Ulrike Hörster-Philipps. Konservative Politik in der Endphase der Weimarer Republik. Die Regierung Franz von Papen, Köln 1982; Gustav Luntowski: Hitler und die Herren an der Ruhr, S. 59f. u. 66ff.; Joachim Petzold: Franz von Papen. Ein deutsches Verhängnis, München u. Berlin 1995; Karl-Heinz Roth: Franz von Papen und der Faschismus, in: ZfG, 51. Jg., 2003, H. 7, S. 589ff.] und „Modell Hitler“.

Das „Modell Schleicher“, das mit dem weiter oben skizzierten „Querfront“-Konzept auf eine faktische Spaltung sowohl der faschistischen Bewegung als auch der Sozialdemokratie [Siehe Frank Deppe u. Wittich Roßmann: Wirtschaftskrise, Gewerkschaften, Faschismus, S. 237ff.; Heinrich August Winkler: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, Berlin u. Bonn 1987, S. 810ff., bes. 817ff.; Gustav Luntowski: Hitler und die Herren der Ruhr, S. 79ff.] unter der Dominanz der Reichswehr ausgerichtet war, stellte letztlich ein eigentümliches und, wie es sich zu Beginn des Jahres 1933 erwies, vollkommen unrealistisches mixtum compositium verschiedener konzeptioneller Ansätze dar, wobei ihr Urheber nicht gänzlich Abschied von gewissen parlamentarischen Verfahrensweisen nehmen wollte und zumindest Teile der Arbeiterbewegung in seine Regierung zu integrieren gedachte. Derlei Gedankengänge Kurt von Schleichers, bei Industriellen gern als „roter General“ apostrophiert, trafen auf den erklärten Widerstand maßgeblicher Kräfte innerhalb der Monopolbourgeoisie.

Über den einzuschlagenden Weg in ein faschistisches Regime kam es im Geschäftsführenden Ausschuss des Alldeutschen Verbandes am 9. September 1932 zu einer hitzigen Debatte, in deren Verlauf die entsprechenden Argumente in aller Deutlichkeit und in paradigmatischer Weise ausgetauscht wurden. Der Vorsitzende Heinrich Claß erklärte unmissverständlich: „Man muss sich darüber klar sein, dass auch eine nationale Massenpartei ‚Masse’ ist. Die Geschichte aber lehrt, dass ein Volk nur glücklich sein kann, wenn es von wenigen zu seinem Glück gezwungen wird.“ [BArch, R 8048/171, Bl. 12] Demgegenüber erklärte Hitlers langjähriger Mitstreiter, der Verleger Julius Lehmann aus München: „Was treibt Hitler zu seiner ganzen Politik? Der Grundgedanke ist, aus dem deutschen Volk ein einiges Volk von Brüdern zu machen, er will die Arbeiterschaft wieder zu nationalem Denken erziehen. Er tut etwas, was wir seit vierzig Jahren erstrebt haben, was uns aber nie gelungen ist.(…) Dass Hitler es fertig gebracht hat, 13 Millionen hinter sich zu bringen, ist eine Leistung, auf die ich mit Bewunderung blicke.“ [Ebenda, Bl. 13.]

Siebtens

Die Vorstellung, Hitler und die Seinen seien bloße Marionetten in der Hand mächtiger Großindustrieller gewesen, ist angesichts der anhaltenden und widersprüchlichen, von vielen ernsten Vorbehalten geprägten Debatten innerhalb der deutschen Großbourgeoisie über ihr Verhältnis zur NSDAP, nicht realistisch. Es gilt nach unserer Auffassung vielmehr die differenzierende Aussage von Wolfgang Ruge: „Das Großkapital ist nicht in der Lage, sich einfach Regierungschefs…zu kaufen, die die rechtlichen Grundlagen für die profitabelsten Ausbeutungsbedingungen schaffen, sondern muss…bestrebt sein, solche Politiker an die Exekutivgewalt heranzuführen, die die Profitschöpfung und den Expansionsdrang auch ideologisch, massenpolitisch und organisatorisch abzusichern vermögen, das heißt, imstande sind, mit hunderterlei, zum Teil auch riskanten oder imperialistische Teilinteressen beeinträchtigenden Mitteln beträchtliche Teile der Werktätigen zur aktiven Unterstützung ihrer Herrschaft zu bewegen.“ [Ehrenpromotion Wolfgang Ruge, Friedrich-Schiller-Universität Jena 1988, S. 7.]

Ein gewissen „Restrisiko“ für die Herren des großen Kapitals blieb auch nach dem 30. Januar 1933 bestehen, dass erst mit den Ereignissen des so genannten Röhm-Putsches auf blutige Weise im Juni 1934 aus der Welt geschafft werden konnte. [Siehe hierzu Kurt Gossweiler: Die Röhm-Affäre. Hintergründe-Zusammenhänge-Auswirkungen, Köln 1983, Neuauflage 2011; derselbe: Aufsätze zum Faschismus, S. 131ff,] Dennoch: Hätte es ohne das aktive Eingreifen des Keppler-Kreises und seines Umfeldes die Übernahme der Regierung durch den deutschen Faschismus zu Beginn des Jahres 1933 gegeben?  Tatsächlich handelte es sich bei der Installierung des Kabinetts Hitler um die Übertragung der Macht von Seiten der alten Eliten, vor allem in Industrie, Banken und Großlandwirtschaft, an die NSDAP.

Achtens

War die Parteinahme für die Nazis nicht auch abhängig von der Sicht auf die zukünftige Rolle, die der deutsche Imperialismus in Europa und in der Welt einnehmen sollte? Es ging in diesem Zusammenhang um die Frage, in welchem Zeitrahmen, in welchen Etappen, und gegebenenfalls mit welchen Verbündeten, eine qualitativ neue Phase der von allen bürgerlichen Kräften geforderten „Revisionspolitik“ durchzusetzen war. Die Notwendigkeit einer forcierten Aufrüstung und möglicherweise ein erneuter Krieg – „nur“ gegen Polen oder auch gegen die Westmächte? –  waren im Denken weiter Teile des Bürgertums Konstanten. Es galt, die Revanche für 1918 zu realisieren. [Siehe hierzu Wolfgang Ruge: Die Außenpolitik der Weimarer Republik und das Problem der europäischen Sicherheit 1925-1932, in: ZfG, 22. Jg., 1972, H. 3, S. 273ff;  Michael Salewski: Zur deutschen Sicherheitspolitik in der Spätzeit der Weimarer Republik, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 22. Jg., 1974, H. 2, S. 121ff.; Michael Geyer: Das Zweite Rüstungsprogramm (1930-1934), in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, Bd. 17, 1975/H. 1, S. 125ff.; Michael Salewski: Das Weimarer Revisionssyndrom, in: aus politik und zeitgeschichte, 18.1.1980, S. 14ff.]

Neben den geschäftlichen Interessen, die eine forcierte Aufrüstung für die deutsche Großindustrie äußerst lukrativ erschienen ließ, existierten auch machtpolitische und ideologische Übereinstimmungen mit den Nazis in der Frage, dass sich in Zukunft der „Drang nach Osten“ entfalten müsse. Anders als dem parlamentarischen Regime, trauten die auf den Faschismus orientierten Großindustriellen Hitler und den Seinen am besten zu, dieses Ziel verwirklichen zu können. Hierzu gehörte nicht zuletzt die vorab zu realisierende „Befriedung“ an der so genannten Heimatfront, also die präventive Ausschaltung aller potenziell oppositionellen, auf die Vermeidung von internationalen Spannungen und Kriegen orientierten Kräfte, zuvörderst der Arbeiterbewegung, mit Gewalt und Terror. Es galt, die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges zu beachten und eine Neuauflage der Novemberrevolution von vornherein zu verhindern.

Aus dem Referat von Georgi Dimitroff – „Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus“ – während des VII. Kongresses der Komintern in Moskau am 2. August 1935

„Genossen, man darf sich den Machtantritt des Faschismus nicht so glatt und einfach vorstellen, als fasste irgendein Komitee des Finanzkapitals den Beschluss, an dem und dem Tage die faschistische Diktatur aufzurichten. Tatsächlich gelangt der Faschismus gewöhnlich in gegenseitigem, zuweilen scharfem Kampf zwischen dem Faschismus und den alten bürgerlichen Parteien oder einem bestimmten Teil dieser Parteien zur Macht; im Kampf sogar innerhalb des faschistischen Lagers selbst, der manchmal bis zu bewaffneten Zusammenstößen führt, wie wir es in Deutschland, Österreich und anderen Ländern gesehen haben.

Alles das verringert indessen nicht die Bedeutung der Tatsache, dass vor der Errichtung der faschistischen Diktatur die bürgerlichen Parteien in der Regel verschiedene Etappen durchlaufen und eine Reihe reaktionärer Maßnahmen durchführen, die den Machtantritt des Faschismus vorbereiten und unmittelbar fördern. Wer in diesen Vorbereitungsetappen nicht gegen die reaktionären Maßnahmen der Bourgeoisie und gegen den anwachsenden Faschismus kämpft, der ist nicht imstande, den Sieg des Faschismus zu verhindern der fördert ihn vielmehr.(…)

Wo liegt die Quelle des Einflusses des Faschismus auf die Massen?

Dem Faschismus gelingt es, die Massen zu gewinnen, weil er in demagogischer Weise an ihre brennendsten Nöte und Bedürfnisse appelliert. Der Faschismus entfacht nicht nur die in den Massen tief verwurzelten Vorurteile, sondern er spekuliert auch auf die besten Gefühle der Massen, auf ihr Gerechtigkeitsgefühl und mitunter sogar auf ihre revolutionären Traditionen. Warum spielen sich die deutschen Faschisten, diese Lakaien der Großbourgeoisie und Todfeinde des Sozialismus, vor den Massen als ‚Sozialisten’ auf, und geben ihren Machtantritt als ‚Revolution’ aus! Weil sie bestrebt sind, den Glauben an die Revolution, den Drang zum Sozialismus, der in den Herzen der breiten werktätigen Massen Deutschlands lebt, auszunutzen.“

VII. Kongress der Kommunistischen Internationale. Gekürztes stenographisches Protokoll, Moskau 1939, S. 127f.

Neuntens

Bei alledem bleibt festzuhalten, dass die Bankiers, Industriellen und Großgrundbesitzer, die für die Übertragung der Regierungsmacht an die deutschen Faschisten plädierten, offenbar keine ernsthaften Probleme mit dem beispiellosen Terror der SA und anderer Gliederungen der NSDAP hatten, der gegen die Arbeiterbewegung und in wachsendem Maße auch gegenüber Juden ausgeübt wurde. Unterstützen sie nicht gerade deshalb die Nazis, weil und nicht obwohl dieser Terror praktiziert wurde und er Rückschlüsse auf noch radikalere, von ihnen offensichtlich nicht unerwünschte Verfahrensweisen in einem „Dritten Reich“ unter der Kanzlerschaft Hitlers zuließ? [Siehe zum Antisemitismus bei den Nazis und den dabei vorhandenen Übereinstimmungen mit ihren konservativen Bündnispartnern Reinhard Rürup: Das Ende der Emanzipation: Die antijüdische Politik in Deutschland von der „Machtergreifung“ bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Die Juden im Nationalsozialistischen Deutschland, hrsg. v. Arnold Paucker, Tübingen 1986, S. 100f.: „Man darf…nicht übersehen, dass die Aufhebung der Rechtsgleichheit und die Bekämpfung eines angeblich zu großen und schädlichen ‚jüdischen Einflusses’ auf die deutsche Gesellschaft von einem breiten antisemitischen Konsens der politischen Rechten in Deutschland getragen wurde. Nicht nur die Nationalsozialisten, sondern auch die Deutschnationalen und der Stahlhelm sowie große Teile des national-konservativen Beamtentums und der Kirchen waren von der Existenz einer – antisemitisch definierten – ‚Judenfrage’ und der Notwendigkeit einer ‚Lösung’ dieser Frage überzeugt. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Entrechtung und soziale Ausgrenzung der Juden im Lager der nicht-nationalsozialistischen Rechten nicht nur hingenommen, sondern unterstützt und vorangetrieben wurde, ist angesichts der Distanzierung von gewalttätigen ‚Exzessen’ gegen die Juden und des späteren Entsetzens über den Völkermord bis heute allzu wenig beachtet worden.(…)Man kann natürlich daran zweifeln, ob die nicht-nationalsozialistische Rechte genauso radikal vorgegangen wäre wie die Nationalsozialisten, doch gab es in der Grundsatzentscheidung hinsichtlich des Endes der Emanzipation keinen ernsthaften Dissens.“  Hervorhebungen von mir-R.Z.]

Wie auch immer: Letztlich belegen die Verhaltensweisen der Eliten in den Großkonzernen und bürgerlichen Parteien, in der protestantischen wie katholischen Kirche, an Hochschulen und Universitäten, in der Verwaltung, im diplomatischen Dienst und in der Justiz, in der Reichswehr und in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen, wie zutreffend die Aussage von Hans Mommsen ist: „Es wäre verfehlt, den Millionen, die aus Verzweiflung über ihre materielle Lage, aufgrund der Enttäuschung über die etablierten Parteien,…Hitler vorübergehend ihre Stimme gaben, für die Entwicklung zur faschistischen Diktatur verantwortlich zu machen. Die NSDAP hat bei Wahlen vor der Machtergreifung niemals mehr Wähler hinter sich zu bringen vermocht als die beiden Linksparteien zusammen.(…) Die politische Verantwortung für die nationalsozialistische Machtergreifung liegt primär bei den traditionalen Eliten…“ [Hans Mommsen: Von Weimar nach Auschwitz. Zur Geschichte Deutschlands in der Weltkriegsepoche, München 2001, S. 164. Hervorhebungen von mir- R.Z.] Oder, wie es Fritz Fischer einst ebenso pointiert wie hellsichtig formulierte:  „Dieser Vulkan an Energie, Willen und Leidenschaft ist…ohne die gesellschaftlich-sozialen wie die ideellen Bedingungen Deutschlands im Kaiserreich und in der Weimarer Republik nicht denkbar. Jedenfalls kam Hitler nicht aus der Hölle oder vom Himmel und war kein ‚Betriebsunfall’. Er gehört, gemessen an den Voraussetzungen, die sein Wirken und sein Auftreten ermöglichten, wie an seiner Gedankenwelt, tief in die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hinein.“ [Fritz Fischer: Hitler war kein Betriebsunfall, S. 181.]

Henry A. Turner, einer der professionellen Weißwäscher des deutschen Großkapitals, schrieb einst demgegenüber: „Die launenhafte Fortuna stand eindeutig auf Hitlers Seite.“ [Henry A. Turner: Hitlers Weg zur Macht. Der Januar 1933, München 1996, S.222.] Müsste es nicht stattdessen heißen: Besonders reaktionäre Kreise der deutschen Industrie- und Bankenwelt und des Großgrundbesitzes bedienten sich Hitlers und der NSDAP, um ihre ökonomischen und politischen Interessen endlich kompromisslos in die Tat umsetzen zu können.

Es scheint an der Zeit zu sein, wenige Monate vor dem 80. Jahrestag der Machtübergabe an die deutschen Faschisten, an die Verantwortung derjenigen zu erinnern, ohne die Hitler und seine Partei in Deutschland nie die Macht hätten erringen und die Welt in den furchtbarsten aller Kriege hätten stürzen können.

Reiner Zilkenat