Heartfield: "Millionen stehen hinter Hitler"

Rallye „Spurensuche Verbrechen der Wirtschaft 1933-1945“

Ein Projekt der VVN/BdA NRW

 

20.03.2016

Auschwitz und die I. G. Farben

Fakten zur ökonomischen und politischen Bedeutung eines Konzentrationslagers

Aus einem Vortrag von Henning Mächerle, Gießen, Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/VVN-BdA, im Siegener VEB Politik, Kunst und Unterhaltung, - veröffentlicht in der Zeitung „Unsere Zeit“ vom 26. Februar 2016 und hier wiedergegeben mit Genehmigung des Autors und der Redaktion.  In NRW ist der ehemalige I.G.Farben-Konzern vor allem mit Nachfolgefirmen in Essen beheimatet: In Gestalt von Evonik existiert dort ein großer chemischer Mischkonzern, der aus IG Farben-Firmen und der Ruhrkohle AG hervorging. In Marl bestehen einige der EVONIK-Produktionsstätten.

Auschwitz und die I. G. Farben

Fakten zur ökonomischen und politischen Bedeutung eines Konzentrationslagers

Am 27. Januar 2015 jährte sich zum 70. Mal der Tag, an dem die Rote Armee 1945 das Konzentrationslager Auschwitz befreite. Der KZ-Komplex Auschwitz bestand aus drei Teilen: Auschwitz, Birkenau und Monowitz. Monowitz ist nur wenigen Menschen ein Begriff.

Was war eigentlich dieses Lager Monowitz und in welchem Verhältnis stand es zum Chemiekonzern I. G. Farben? Welche Rolle spielte das Unternehmen für die Funktionsweise des KZ Auschwitz insgesamt und warum erinnert heute so wenig an diese Verbindung von Wirtschaft und Massenmord an den europäischen Juden und unzähligen anderen Menschen?

Um diese und andere Fragen ging es in dem Vortrag von Henning Mächerle von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten aus der Kreisorganisation Gießen, von dem wir hier in der UZ einige wichtige Fakten dokumentieren:

Im Mai 1940 legte Heinrich Himmler, Reichsführer SS, Hitler eine Schrift mit dem Titel „Einige Gedanken über die Behandlung des Fremdländischen im Osten“ vor. In einer „rassischen Siebung“ sollten die „wertvollen Elemente“ der Bevölkerung in den besetzten Gebieten „herausgefischt und zur Assimilierung nach Deutschland geschickt“ werden. Die „verbleibende minderwertige Bevölkerung“ sollte „als führerloses Arbeitsvolk zur Verfügung stehen“ und „unter der strengen, konsequenten und gerechten Leitung des deutschen Volkes“ berufen sein, „an dessen ewigen Kulturtaten ... mitzuarbeiten“ Am 24. Juni 1940 schrieb der Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD), Reinhard Heydrich, an Außenminister von Ribbentrop, dass das „Gesamtproblem“ durch Auswanderung nicht mehr gelöst werden könne. Eine „territoriale Endlösung“ werde „dadurch notwendig“.

Doch vor allem die Rote Armee erwies sich nach dem Überfall auf die Sowjetunion als widerstandsfähiger als vermutet. Millionen Menschen, sogenannte „Feindbevölkerung“, waren seit 1939 im „deutschen Herrschaftsraum“ im Osten, also den eroberten Gebieten in Osteuropa, zusammengepfercht worden.

Das ursprüngliche Vorhaben, diese Menschen weiter nach Osten zu treiben und sie dort verhungern zu lassen, scheiterte am entschiedenen Widerstand in vielen der besetzten Gebieten. Auch daraus ergab sich sicher der Plan nach schneller Vernichtung der „Feindbevölkerung“ (Wannseekonferenz am 20. Januar 1942, Generalplan Ost - Entwicklung zwischen 1940 und 1942). Aber das war in der faschistischen Ideologie bereits angelegt.

„Das Kriegsgeschehen machte ihn möglich, schuf seine allgemeinen Bedingungen und führte den deutschen Imperialismus gerade an jenen Punkt seiner Machtausdehnung, wo sich abenteuerlichste Weltherrschaftserwartungen, realpolitische Überlegungen und rassistischer Fanatismus kreuzten und potenzierten.“ (Kurt Pätzold, 1983).

Aus dem Genannten ergibt sich, dass heute von Nationalsozialismus zu sprechen (durch bürgerliche Politiker, durch Historiker, Medien) nicht nur einfach falsch ist, sondern politisch genau das Gegenteil von dem bedeutet, was der Faschismus war: Eine Herrschaftsform des Kapitals - Kapital verstanden als gesellschaftliches Verhältnis.

„Rationalität" der Vernichtungspolitik

In vielen Diskussionen - selbst unter Linken, Antifaschisten - ist die Frage der Rationalität dieser Politik ungeklärt oder wird bestritten. Oft wird allein die Vernichtungspolitik gegen die Juden als eigentliches Kriegsziel gesehen.

Das ist falsch: Es ging um die Revision des Versailler Vertrages, um die Erringung der Vormachtstellung Deutschlands in der Welt, die Besetzung und Unterwerfung anderer Länder, die Auslöschung von Staaten in West und Ost, die Ausbeutung ihrer Ressourcen, die Versklavung der dort lebenden Menschen, die Verdrängung und Aussiedlung von großen Teilen ihrer Bevölkerung, um Rassenkrieg („Germanen gegen Slawen“).

Ihre ersten Ziele - die Vereinnahmung Österreichs und die Zerschlagung der Tschechoslowakei - erreichte Hitlerdeutschland ohne Krieg, ohne Gegenwehr.

Im Sommer 1941 begann der Bau des dritten Werkskomplexes Montan-Anlage, die Vorprodukte für chemische Waffen wie Nervengas Tabun für das I. G.-Farben-Werk Dyhernfurth bei Breslau liefern sollte.

Im Sommer 1941 begann der Bau des dritten Werkskomplexes Montan-Anlage, die Vorprodukte für chemische Waffen wie Nervengas Tabun für das I. G.-Farben-Werk Dyhernfurth bei Breslau liefern sollte.

Auch die Opferzahlen sprechen gegen die Behauptung, die Vernichtungspolitik gegen die Juden sei das eigentliche Kriegsziel gewesen: Euthanasiemaßnahmen gegen geistig und körperlich Behinderte führten zu ca. 200 000 Toten, zwischen 200 000 und 500 000 Sinti und Roma wurden umgebracht, von den sowjetischen Kriegsgefangenen (Gesamtzahl der Gefangenen 5,3 Millionen) drei Millionen. Von der slawischen Zivilbevölkerung kamen durch „Strafaktionen“, Kampfhandlungen, gezielte Vernichtung in der Sowjetunion ca. 20 Millionen, in Polen 6 Millionen, in Jugoslawien eine Million um. Die genaue Zahl der Opfer unter den im Deutschen Reich verfolgten politischen Gegnern ist unklar (laut Reinhard Kühnl gab es 800 000 politisch Verfolgte im Deutschen Reich).

I. G. Farbenindustrie AG

Welche Rolle spielten in diesem Zusammenhang die I. G. Farben?

Zunächst einige Fakten: Die I. G. Farbenindustrie AG - kurz I. G. Farben oder IG Farben - entstand am 2.12.1925 aus einer Vielzahl von Chemieunternehmen. Sie war Ende des zweiten Weltkrieges das größte Chemieunternehmen der Welt mit Sitz mit Frankfurt am Main. 1945 betrug das Inlandsvermögen der I. G. Farben 6 Milliarden RM, das Auslandsvermögen eine Milliarde RM. 87 Prozent des Maschinenparks, den die I. G. Farben 1943 genutzt hatte, waren bei Kriegsende noch uneingeschränkt verwendbar.

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Die Autarkiepolitik (Schaffung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit) war Teil der 1933 beginnenden Aufrüstungspolitik des deutschen Faschismus. Das bedeutete zunächst die Abschottung vom Handel mit den „Westmächten“, Aufbau von Ersatzstoffindustrien. Riesige Industrieneubauten mussten errichtet werden. Produktionslinien wie synthetischer Kautschuk und Benzin wurden erst durch Subventionen der faschistischen Regierung rentabel.

Das ermöglichte den I. G. Farben riesige Extraprofite.

Der Konzern lieferte - bezogen auf das Deutsche Reich - letztlich 100 Prozent des Giftgases, des Nickels, des Magnesiums, 95 Prozent des Sprengstoffes, 90 Prozent organischer Zwischenprodukte, 84 Prozent des synthetischen Kautschuks, 80 Prozent der Plastizierungsmittel, 75 Prozent des Methanols (davon Monowitz 15 Prozent), 60 Prozent der benötigten Schmiermittel, 53 Prozent des synthetischen Benzins, war also an der Kriegs- und Vernichtungspolitik des faschistischen Deutschlands führend beteiligt.

Der Netto-Gewinn des I.G.-Farben-Konzerns betrug

  • 1935 66,8 Millionen Reichsmark (RM),
  • 1941 311,5 Millionen RM,
  • 1945 145,4 Millionen RM.

Im Jahr 1943 wurde mit 3,1 Milliarden RM der höchste Umsatz der Firmengeschichte erreicht. Die Gewinnsteigerung betrug 1941-1943 (gegenüber 1935) 366 Prozent. 1936 bis 1944 standen 2 Milliarden RM für Dividendenzahlungen und Rückstellungen zur Verfügung - auch für Planungen für die Nachkriegszeit und Rückstellungen (Beispiel für „Keine Stunde Null nach 1945“).

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 investierten die I. G. Farben zusätzlich 2,1 Milliarden RM.

Am Ende des zweiten Weltkrieges war die Produktionskapazität größer als im September 1939, die I. G. Farben waren zum größten Chemiekonzern der Welt geworden.

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Die Gewinne der I. G. Farben und ihre anhaltende wirtschaftliche Stärke resultierten nicht nur aus der Produktion kriegswichtiger Stoffe, sondern in nicht unerheblichen Maße aus der Ausbeutung von Zwangsarbeitern bis hin zu deren Ermordung, aus der „Arisierung“ des Eigentums jüdischer Menschen sowie der Übernahme und Plünderung der chemischen Industrie besetzter Länder.

Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges sollten die I. G. Farben auf Beschluss des Alliierten Kontrollrates aufgelöst werden. Dazu wurde die I. G. Farben wieder in eigenständige Unternehmen aufgeteilt und der verbleibende Rest in I. G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft i. L. umbenannt.

Interessanterweise dauerte das Abwicklungsverfahren rund 60 Jahre und endete erst 2012: Erst Ende 2003 wurde Insolvenz erklärt, doch das Unternehmen blieb börsennotiert bis zum 9. März 2012 und wurde erst am 31. Oktober 2012 aus dem Handelsregister gelöscht.

Der KZ-Komplex Auschwitz

Auschwitz, das war nicht nur das am 27.4.1940 als Stammlager gegründete Konzentrationslager Auschwitz (Auschwitz I), an dessen Tor die Losung stand „Arbeit macht frei“.

Am 26.9.1941 wurde Auschwitz-Birkenau (Auschwitz II) eröffnet, das als Arbeitslager für 100 000 sowjetische Kriegsgefangene geplant worden war, ab 1942 Vernichtungslager war, in dem ca. eine Million Menschen ermordet wurden (überwiegend polnische Staatsbürger, Juden, Sinti, Roma).

Im April 1940 wurde das Werk Buna IV (es lag etwa 60 km westlich von Krakow und sechs Kilometer östlich vom Stammlager Auschwitz I entfernt angrenzend an das Gelände der Buna-Werke) eine komplexe chemische Fabrik für Hochleistungstreibstoff - Flugbenzin, Heizöl für die Marine - bzw. Kunststoffe, Kunstfaser, Stabilisatoren, Harze, Methanol, Stickstoff, Pharmazeutika) eröffnet. Im Sommer 1941 begann der Bau des dritten Werkskomplexes Montan-Anlage, die Vorprodukte für chemische Waffen wie Nervengas Tabun für das I. G.-Farben-Werk Dyhernfurth bei Breslau liefern sollte.

Das Arbeitslager Monowitz (Auschwitz III) wurde am 28.10.1942 „in Betrieb“ genommen, ab November 1943 war Monowitz (Monowice) auch Stammlager.

Der Bau von Monowitz kostete die I. G. Farben insgesamt 900 Millionen Reichsmark - über 50 Prozent der Kosten kamen vom Deutschen Reich als Subventionen zurück.

Zyklon-B-Behälter

Zyklon-B-Behälter

Monowitz war für die I. G. Farben besonders interessant, denn es gab hier nicht nur ein gute Eisenbahnanbindung, ausreichend Wasser und drei nahe gelegene Kohlegruben. Es gab vor allem Schutz vor alliierten Bombenangriffen („luftsicheres“ Gebiet). Problematisch war allein die Beschaffung geeigneter Arbeitskräfte.

Doch dieses Problem „löste“ ein „Deal“ zwischen den I. G. Farben und der SS. Am 26.2.1941 verfügte Heinrich Himmler, das Bauvorhaben der Buna-Werke durch Gefangene aus dem Konzentrationslager Auschwitz in jedem nur möglichen Umfang zu unterstützen. Die I. G. Farben lieferte Baumaterial (Zement, Eisen, Holz) zum Ausbau des Stammlagers Auschwitz I. Im Gegenzug wurden von der SS zunächst 1 000 Häftlinge zugesagt, zum folgenden Jahr 3 000, für die die I. G. Farben an die SS zahlten: 4 RM für Facharbeiter, 3 RM für Hilfsarbeiter.

Die Arbeitszeit betrug im Sommer zehn Stunden, im Winter neun Stunden. Alle Kosten für Verpflegung und Transport zur Baustelle übernahm die SS.

Anfang 1942 bauten die I. G. Farben für 5 Millionen RM ein eigenes Lager für Häftlinge im Bereich von Auschwitz III. Das Lager „Buna“ wurde am 28. Oktober 1942 fertiggestellt. Dort kamen zwischen 20 000 und 25 000 Menschen um.

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Trotz der zentralen Bedeutung des I. G.-Farben-Konzerns für den Raub- und Vernichtungskrieg des deutschen Faschismus kamen die Manager des Konzerns nach 1945 glimpflich davon.

Zwar wurden 24 I. G.-Farben-Verantwortliche im Mai 1947 in einem gesonderten „Chemieprozess“ von US-amerikanischen Ermittlungsbehörden vor dem US-Militärgericht in Nürnberg angeklagt. Im Juli 1948, am Ende des Prozesses, wurden jedoch nur noch 13 Angeklagte zu Haftstrafen von bis zu acht Jahren verurteilt.

Bereits 1951 wurden die letzten Verurteilten vom US-amerikanischen Hohen Kommissar John McCloy begnadigt.

Alle konnten ungehindert ihre Karrieren in der westdeutschen Chemieindustrie fortsetzen.

Aus dem Vortrag von Henning Mächerle am 27.1.2015, VEB Politik, Kunst und Unterhaltung, AStA der Uni Siegen