Heartfield: "Millionen stehen hinter Hitler"

Rallye „Spurensuche Verbrechen der Wirtschaft 1933-1945“

Ein Projekt der VVN/BdA NRW

 

15.04.2016

Ein bisschen Illegalität und ein Haufen Arbeit

Vortrag von Ulrich Sander auf der Konferenz der VVN-BdA in Hamburg, 9.4.2016

Eine Bemerkung vorweg:

Es war am 20. Dezember 1961 im Landgericht Mannheim. Es ist Urteilverkündung, und zwar vor dem Schwurgericht im Fall des SS-Führers Ehrlinger und vor der Politischen Kammer im Fall des Betriebsrates Krumm von den Mannheimer Motorenwerken. Rechtsanwalt Dr. Amman berichtet darüber später: “Die beiden Urteilsverkündungen fanden fast unmittelbar hintereinander statt, so daß die Presseleute beide besuchen und miteinander vergleichen konnten. Ehrlinger bekam zwölf Jahre Gefängnis, das heißt umgerechnet für jedes von ihm hingemordete Leben etwa dreieinhalb Tage Gefängnis. Krumm erhielt fünf Monate Gefängnis, also für jede Gedächtnisfahrt an die Stätten solcher Opfer zweieinhalb Monate Gefängnis!“ Und außerdem verlor Krumm sein Betriebsratsmandat und seinen Arbeitsplatz. Er hatte Kollegenfahrten zur Gedenkstätte Buchenwald in der DDR organisiert. Ehrlinger hatte Juden gemordet.

Ich bin Ulli Sander, wurde 1941 hier in Hamburg geboren.

Vor drei Jahren wurde ich von einem  Studenten zu Forschungszwecken interviewt, der fragte: Also am Anfang würde mich interessieren, wie es bei ihnen dazu gekommen ist, dass Sie sich politisch engagiert oder interessiert haben?  Ich sagte: Zur VVN gehöre ich seit 1959. Seit 1961 bin ich KPD-Mitglied. Ich geriet somit früh in verbotene antifaschistische Organisationen. So war die Zeit damals. Jedoch es begann schon viel früher.

Das Politische war immer dabei, immer, solang ich denken kann,  seit ich durch das bombardierte Hamburg stolperte, war da die Politik - sie spielte eine Rolle, als ich sechsjährig 1947 zur Schule kam, das war die Schule Am Bullenhuser Damm in Hamburg-Rothenburgsort, früher ein Teil des KZ Neuengamme. Es waren da in unserer Schule 20 jüdische Kinder ermordet worden, die Lehrer stritten es ab, mein Vater bestätigte den Mord, denn der stand in der Zeitung.

Geschwister Scholl Gedenkveranstaltung in Hamburg am 21.2.1960, RednerUlrich Sander (18 Jahre)Meine Eltern haben viel über die Politik gesprochen. Weil meine Eltern unter der Politik der Nazis gelitten haben, dachte ich sehr früh: Das darf nicht wieder kommen.

Um uns waren in frühen Kinderjahren nicht nur Nazis, sondern da war auch Krieg und darum kreiste mein ganzes Denken von Anfang an. Ich bin ja noch vom Krieg betroffen. Nazis und Krieg sind mir seit frühester Kindheit zutiefst verhasst. Mir sind  sie ja noch geläufig, die Bombennächte. Also das älteste Erlebnis, was ich hatte und noch erinnere, sind die  Bombennächte in Hamburg, das Bombardement, das hieß Gomorra, die Engländer haben in ich glaub zwei oder drei Tagen und Nächten fünfundreißigtausend Menschen  zum Tode befördert durch die Bombardierung in Hamburg. Unsere Wohnung in der Stresowstraße in Rothenburgsort ging kaputt.   

Daran erinnere ich mich, wie wir vor den Flammen flohen, aber einmal auch auf die Flammen zulaufen mussten, weil zwischen uns und den Flammen der Luftschutzbunker lag. Das war so ein furchtbares Erlebnis für einen Dreijährigen.

Und später kamen dann die  Freunde meiner Eltern zurück aus dem Krieg, oder aus dem KZ und Gefängnis. Die waren vorher in einer Jugendgruppe - in den frühen dreißiger Jahren - und haben Waffen gesammelt und wollten damit irgendwas machen gegen die Nazis, und das ist aufgefallen und die sind dann alle eingesperrt worden, beziehungsweise sie durften sich „bewähren“.  Mein Vater wurde dann zur Bewährung in die  Wehrmacht gesteckt, und bevor der Krieg überhaupt begann, war er bereits hundertprozentig kriegsbeschädigt infolge der Misshandlungen in dem Strafbataillon.

Ja, mein Vater hat darunter sein ganzes Leben gelitten,  ist nur achtundfünfzig Jahre alt geworden und kam eben schwer gebrochen aus dem Krieg zurück. Wir waren dann 1944 zunächst aus Hamburg weggegangen, weil alles zerstört war und dann sind wir neunzehnhundertsechsundvierzig nach Hamburg zurückgekommen, aus Mecklenburg und haben in Billbrook in einem elendigen Lager gelebt. Dann Pfingsten neunzehnhundertsiebenundvierzig: Da haben sich dann diese Leute aus der Jugendgruppe meiner Eltern mal wiedergetroffen. Da haben sie gedacht, wir müssen mal wieder so wie damals, soweit wir überlebt haben, alle zusammenkommen. Ein Pfingstcamp an der Elbe. Sie haben  sich dort stundenlang am Lagerfeuer unterhalten, und ich habe zugehört, war beeindruckt wegen ihres Mutes und war ängstlich zugleich, wegen der Schrecken, die ich vernahm. Ich war angezogen von ihnen und abgestoßen.

Sie hatten ja immer nur ein Thema, und das war kein schönes und ich weiß noch ganz genau: In der ersten Nacht bin ich schwer krank geworden, hab ich zum ersten Mal einen fürchterlichen Asthmaanfall gehabt, psychosomatisch und dann hab ich sehr lange darunter gelitten - meine ganze Kindheit hatte ich Asthma und ja das hat mich sehr beeinträchtigt.

Einen großen Teil meiner Schulzeit war ich ausgefallen aus der Schule, ich hab dann noch zehn Jahre - nee elf Jahre - bin einmal zurückgestuft worden, die Schule besucht. 1950 zogen wir vom Barackenlager in eine winzige neue Wohnung in Hamburg-Horn, und ich fand am ersten Tag von der Schule nicht zurück nach Hause. Zwischen Schule und Wohnhaus lag alles in Trümmern und ich fand den Weg nicht. Ich irrte herum, viele Kindheitserinnerungen führen mich in Trümmerlandschaften zurück, noch heute.

Diese Erinnerungen brachten mich dazu, mich früh in die Friedensbewegung einzureihen. Ich meine: Die antifaschistische Bewegung muss Friedensbewegung sein oder sie ist keine antifaschistische Bewegung. Meine ersten Erfahrungen als Journalist machte ich als Pressesprecher der Ostermarschbewegung ab 1960.

Ich erlebte damals u.a. folgendes: Von 1958 bis 1960 durchlief ich eine kaufmännische Ausbildung bei der SPD-Tageszeitung „Hamburger Echo“, die es heute nicht mehr gibt. Im ersten Lehrjahr wurde ich von Chefs und Kollegen aufgefordert, mit zur großen Antiatomkundgebung auf dem Hamburger Rathausmarkt zu kommen, und ich reihte mich gern bei den 150.000 ein. Nachdem ich ab 1960 Mitglied der Leitung der deutschen Ostermärsche wurde und die SPD-Führung auf NATO-Kurs gegangen war, da wehte ein anderer Wind. Die SPD-Betriebsgruppe verlangte meine Entlassung aus dem Betrieb. Allerdings vergeblich, denn das wäre der Bruch meines Lehrvertrages gewesen.

Als wir uns als legale Kommunisten wie auch als illegale KPD-Genossen in die Ostermarschbewegung einreihten, sagten die Pazifisten: Die Kommunisten wollen uns ausnutzen, sie sind nur ihrem Dogma, nicht dem gemeinsamen Ziel des Friedens verpflichtet. Wir konnten dagegen halten. Alte Genossen, welche die Ostermarschroute schon auf Todesmärschen gegangen waren, überzeugten. In einem Buch von Andreas Buro über die Geschichte der Friedensbewegung stellen die Ostermarschbegründer Helga und Konrad Tempel fest, sie hätten damals zu viel Argwohn gegenüber den Kommunisten gehabt. Diese Erkenntnis hat uns gefreut.

„Schon einmal hat man dem deutschen Volk den Vorwurf gemacht, geschwiegen zu haben, wo mutige Worte und Taten notwendig waren. In den Konzentrationslagern – wie Bergen-Belsen – kamen Millionen Menschen ums Leben. Bei Fortsetzung der Versuchsexplosionen und der atomaren Aufrüstung aber drohen der gesamten Menschheit Vernichtung.“ So begann der Aufruf zum ersten deutschen Ostermarsch der Atomwaffengegner, der vor 56 Jahren von Hamburg und anderen norddeutschen Städten zum Raketenübungsplatz Bergen-Belsen-Hohne führte. Kommunist/innen und VVN-Kameraden gehörten zu den Organisatoren, die dann auch halfen, die Ostermärsche im ganzen Land vorzubereiten. Das geschah auch dadurch, dass wir die Pressearbeit übernahmen und mittels eines alten Fernschreibers, den Arno Klönne besorgte, die Medien mit Ostermarschmeldungen versorgten. Live-Ticker nannte und nennt man dies. Es gelang ein Durchbruch an oppositioneller Medienarbeit. In dem Aufruf von 1960 hieß es weiter: „Jede Herstellung, Erprobung und Lagerung von Atomwaffen – gleich an welchem Ort und in welcher Hand – ist die größte Gefährdung der Menschheit.“ Allerdings haben wir uns dagegen gewehrt, die Tests der UdSSR ebenso zu verurteilen, wie die Bomben des Westens. Wir sagten: Die Sowjetunion hat Vorschläge gemacht, wie die Bombe wieder aus der Welt verschwindet, der Westen hat solche Vorschläge abgelehnt. Die westlichen Atomwaffen - auch heute noch in unserem Land – sie gehören abgeschafft.

Im April 1967 meldete sich das Münchener Institut für Film und Bild und bot mir einen Vertrag an, um eine Tonbildreihe für die Schulen über Helmuth Hübener zu erstellen. Offenbar griffen unliebsame Geister ein, denn der Briefwechsel mit dem Institut endete abrupt, und die Tonbildreihe wurde nie erstellt. In jener Zeit wurde meine Post überwacht, daraus erwuchs ein Verfahren wegen Einfuhr verfassungsfeindlicher Schriften. Bei einer Vernehmung im Amtsgericht Wiesbaden wurde mir bereits im Oktober 1964 vorgehalten, einzelne Exemplare von Zeitungen aus der DDR erhalten zu haben, für die Deutsche Friedens-Union gearbeitet zu haben, eine Rede auf einer Geschwister-Scholl-Gedenkfeier gehalten und gegen die Ermordung von Julian Grimau durch die Franco-Faschisten protestiert zu haben. All dies ging aus einer Akte aus Hamburg hervor, aus der der Amtsrichter mir vorlas.

Vor acht Jahren erschien ein jetzt folgender Bericht in der in Asien und Nordamerika von Berlin aus verbreiteten Zeitung „The German Times“ (und The Asia Pacific Times Monthly newspaper). Die Überschrift: Der deutsche Nazijäger Ulrich Sander hat nie aufgegeben - Licht bringen in eine dunkle Vergangenheit. Von Hanjo Seißler. Der Text u.a.:

„In die Pflicht genommen fühlte sich der Sohn eines Hamburger Widerständlers als er 15 Jahre alt war. Schon im Jahre 1956 wollte er dabei helfen, den von Nazis Ermordeten, Geschundenen und Eingekerkerten, ihre Würde zurück zu geben….

Kurzum: Er will "Gerechtigkeit!"

(geschildert wird die Sache mit meiner Einschulung)

Mit 17 Jahren, als kaufmännischer Lehrling in einem Zeitungsverlag, war er über die Geschichte von Helmuth Hübener gestolpert. Er begann zu recherchieren, was es mit dem Tod des 17-Jährigen auf sich hatte.

Der war, weil er 1942 Flugblätter gegen die Nazis und den Krieg  verteilt hatte, vom sogenannten Volksgerichtshof "wegen Vorbereitung  zum Hochverrat und landesverräterischer Feindbegünstigung zum Tod" verurteilt und hingerichtet worden. Das, was Sander, der seit 1963 als Journalist arbeitet, bei den Recherchen über Mörder, Sadisten, Spitzel, Verräter, Denunzianten und Feiglinge, aber auch tapfere Normalmenschen, aufrechte Deutsche und stille Helden herausfand, hat ihn bis heute nicht losgelassen. Wohl deswegen, versucht er unermüdlich, Licht ins braune Dunkel zu bringen.

Im Jahr 1967 legte er eine erste Arbeit über Helmuth Hübener und dessen Widerstandsgruppe vor. 1993 erschien sein Buch "Mord im Rombergpark". (weitere Schilderungen meiner Veröffentlichungen lasse ich nun weg) Es befasst sich (als erster) mit den Morden der Nazis in der Endphase des Krieges. 1999 gab er den Nachlass des Kölner Widerstandskämpfers und Journalisten Kurt Bachmann unter dem Titel ‚Wir müssen Vorkämpfer der Menschenrechte sein‘ heraus.

Dabei hat sich Sander keineswegs ausschließlich schreibend eingemischt. Bereits 1958 gründete er die "Geschwister-Scholl-Jugend" in Hamburg mit. (…) Seit vielen Jahren stöbert er mit kriminalistischem Gespür alte und neue Nazis auf, hält Vorträge vor Schulklassen, Gewerkschaftern und vor Menschen, die einfach nur wissen wollen, was wirklich geschehen ist seit 1945.

Er enttarnte Neonazis in der deutschen Gerichtsbarkeit und appelliert immer wieder an Behörden und Politiker, um …

Straßen, Plätze, Gebäude, Kasernen und andere öffentliche Einrichtungen von den Namen nationalsozialistischer Politiker, Hitlertreuer Militärs, mörderischer Mediziner, das Recht beugender Juristen und skrupelloser anderer Nutznießer des Systems - die beispielsweise durch den "kostengünstigen Einsatz" von KZ-Häftlingen und  Verschleppten aus besetzten Ländern, sogenannten Fremdarbeitern,  gigantische Vermögen zusammenrafften - zu befreien.

Ohne ihn wüssten viele Deutsche nicht, dass deutsche Soldaten - in  Sonderheit Gebirgsjäger - in Italien und Griechenland wehrlose  Greise, Kinder und Frauen ermordet haben. (…)  Ohne ihn - der die Initiative, die dagegen protestierte, mit seinem Wissen und in Artikeln unterstützte - trüge ein Gymnasium im westfälischen Kreuztal wohl noch den Namen des Industriellen Friedrich Flick, eines verurteilten Kriegsverbrechers. Ohne Menschen wie ihn und  seine Freunde wären die neue Blüten treibenden Reste des braunen Sumpfes vermutlich längst ein angesehenes Feuchtbiotop. (…)

Dieser Report in einer deutsch-amerikanischen Zeitschrift trug mir den Vorwurf ein, ich sei ein vom US-Imperialismus gekaufter Agent (Arbeiterfotografie).

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Es soll nun noch eine Rede von mir aus dem Jahr 2011 zitiert werden, in der ich über mich selbst Auskünfte gab, jedoch vor allem über Helmut Hübener (1925-1942), den jüngsten vom Volksgerichtshof ermordeten Widerstandskämpfer, der Informationen des britischen Rundfunks in Flugblättern verbreitete. „helMUT hÜBENer“ – so schreibt sich der Name bzw. das Logo der Stadtteilschule in Hamburg-Barmbek neuerdings. Die Namensgebungsfeier der Helmuth-Hübener-Schule – die ich mit ausgelöst hatte - war hinreißend. Besonders die Schülertheatergruppe, aber auch die Band, der Chor, die Malerei-Gruppe. Die Arbeitsgruppen erfanden den Namen ihrer Schule: helMUT ÜBENer.

Ich war einer der Redner und sagte:

Ich gratuliere Ihnen und Euch sehr herzlich zur neuen Namensgebung der Schule am Benzenbergweg. Als ich zum ersten Mal von Helmuth Hübener hörte, war ich so alt wie er war, als er begann, seine Flugblätter zu schreiben. Also 16 Jahre, so alt wie viele von Euch Schülerinnen und Schülern.

Ich las das Todesurteil vom 11. August 1942 in einem Heft, das ein Mitstreiter meiner Lehrerin Lisa Niebank, der Journalist und Widerstandskämpfer Franz Ahrens herausgegeben hat. Das Urteil hatte er in den Wiedergutmachungsakten gefunden.

Das Urteil hat mich sehr beeindruckt. Die Nazirichter schilderten darin sehr genau die große Widerstandsleistung und den Mut wie die Klugheit Helmuth Hübeners. Er war ein so gefährlicher Feind für sie, dass sie ihn zum Tode verurteilten. Er war mit 17 Jahren ihr jüngstes Opfer.

Wir haben dann in der Geschwister Scholl Jugend Hamburg, einer Jugendgruppe von Kindern von NS-Verfolgten und Widerstandskämpfern, darüber gesprochen. 1960 bildeten wir eine Arbeitsgruppe, um Kurzbiographien junger Widerstandskämpfer zu verfassen. Ich übernahm es, über Helmuth Hübener zu schreiben. Es begann eine Spurensuche, die nun schon über fünfzig Jahre währt. (…)

Manche halfen und manche auch nicht, eher nicht. Und das Buch wurde geschrieben, zwei Straßen in Hamburg nach ihm benannt. Und nun diese Schule! Und dies Lesebuch! (Es erscheint im Dezember mit einem Abschnitt über „Widerstand“ und „Hübener“ in der Reihe doppel-klick bei Cornelsen)

Damals las ich die ‚Reportage unterm Strang geschrieben‘ von Julius Fucik, dem Prager Journalisten und Widerstandskämpfer, den die Nazis – wie Helmuth - in Plötzensee ermordeten. In seiner insgeheim in Gestapohaft geschriebenen Reportage heißt es an einer Stelle: ‚Die ihr diese Zeit überlebt, vergeßt nicht. Vergeßt die Guten nicht und nicht die Schlechten. Sammelt geduldig die Zeugnisse über die Gefallenen. Ich möchte, daß man weiß, daß es keine namenlosen Helden gegeben hat. Sucht euch wenigstens einen von ihnen aus und seid stolz auf ihn.‘

Ich suchte mir Helmuth Hübener als einen solchen Menschen aus. Und nun habt Ihr es auch getan.

Drei lange Jahre dauerte es, bis ich Helmuths Akten kennenlernen durfte. Die Behörden in Hamburg und in Berlin/West, wo die Akten lagerten, weigerten sich zu helfen. Es war die Zeit, da hohe Nazis noch in allen Ämtern saßen. Da war man nicht daran interessiert, dass Namen bekannt würden – nicht von Opfern, schon gar nicht von Tätern. (…) In Hamburg aber redeten die Behörden sich darauf raus, daß die Geschwister Scholl Jugend nicht „anerkannt", sondern linksextrem sei. (…)

Die Behandlung unserer Jugendgruppe als „extremistisch“, löste den Protest des Vaters der Geschwister Scholl, Oberbürgermeister i.R. Robert Scholl, aus. Dieses Vorgehen, so schrieb er uns, ‚zeigt, daß die restaurativen Kräfte aus dem Dritten Reich sich wieder überall regen dürfen und salonfähig geworden sind. Desto wichtiger ist es, daß Sie die Jugend ... darüber aufklären, was heute schon wieder gespielt wird und sie dabei zu selbständigem, kritischem Denken erziehen.‘

Ich gab nicht auf, beschaffte mir Akteneinsicht. (…) Das was uns viele Ältere und viele aus Helmuths Generation immer wieder sagten: Man konnte nichts wissen und nichts tun! das wurde von Helmuth und seinen Freunden widerlegt. Allerdings zeigte ihr Schicksal auch, welche Gefahr jenen drohte, die sich wehrten. Deshalb ist für uns eine Lehre aus jener Zeit auch immer gewesen: Es gilt, sich rechtzeitig gegen alte und neue Nazis, gegen die Beseitigung der Demokratie zu wehren, damit das sich Wehren nie mehr lebensgefährlich wird. Denn dann ist es zu spät.

Helmuth Hübener ist sehr aktuell. Er hatte in Flugblättern gewarnt: ‚Zu Tausenden wird Hitler Eure Frauen und Kinder zu Witwen und Waisen machen, und der von Hitler begonnene Bomberkrieg wird unzähligen Deutschen das Leben kosten.‘ (…) Wenn wir heute durch die Stadtteile (in denen Hübener wirkte) gehen, finden wir an fast jedem Haus die Tafel ‚Zerstört 1943, wiederaufgebaut 195..‘ Auf mich wirken diese zahllosen Tafeln wie ein einziges großes Antikriegsdenkmal. Die Summe dieser Tafeln bestätigt die Warnung Hübeners.  

Eine weitere Mahnung von Helmuth Hübener ist heute aktuell: ‚Wenn alles sich rührt, haben die Nazis auskalkuliert,‘ heißt es einem Gedicht von ihm, das eben auch vorgetragen wurde. Daher meine ich, es gilt sich gegen neuen Ungeist, neue Nazis, neuen Rassismus, neue Kriege zu rühren. Damit nie wieder ein so großer Mut zum sich Wehren notwendig wird, wie zu Helmuth Hübeners Zeiten, muß jetzt gehandelt werden. In seinem Sinne müssen wir wachsam sein.

Obwohl Bürger von Nordrhein-Westfalen, werde ich von den bayerischen und badenwürttembergischen Verfassungsschutzbehörden beobachtet und in ihren Jahresberichten als »Linksextremist« ausgewiesen. Ich gehöre zu den Bürgern, die angeblich mittels »diffamierender Beschreibung der Verfassungswirklichkeit« und scharfer Kritik »ein grundsätzliches Infragestellen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung« erkennen lassen. So meint es das Bayerische Staatsministerium des Innern ausdrücken zu müssen, weshalb ich in einer Antwort an Bürgerinnen und Bürger zitiert werde, die wissen wollen, warum die VVN-BdA im bayerischen Verfassungsschutzbericht erwähnt und warum diese Organisation vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

Die »diffamierende Beschreibung der Verfassungswirklichkeit« stammt nicht von mir, aber wird mir und der VVN-BdA, deren Bundessprecher ich bin, untergeschoben.

Die »Diffamierung«, die mir unterstellt wird, laufe darauf hinaus, daß der »Kapitalismus, die bestehende freiheitliche demokratische Staats- und Gesellschaftsordnung und mit ihr letztlich die parlamentarische Demokratie« zu bekämpfen sei. Wer als Antifaschist den Kapitalismus kritisiert, sei ein Anhänger der »Dimitroff-Thesen« und bekämpfe die Demokratie, so der bayerische Verfassungsschutz.

Daß in Deutschland mit der NSDAP auch die ökonomischen Eliten siegten, die Hitler brauchten und förderten, ist keine Erfindung von Georgi Dimitroff, sondern das war Kenntnisstand aller politisch klar denkenden Beobachter in jener Zeit.

Die allgemeine Schlußfolgerung der Antifaschistinnen und Antifaschisten seit den Jahren 1933/34 war jedoch auch, die Errungenschaften der demokratischen und parlamentarische Gesellschaftsordnung zu verteidigen und auf ihrer Grundlage die Menschen in den gemeinsamen Kampf gegen Krieg und Faschismus zu führen. Gerade die Fehleinschätzung, daß der bürgerliche Staat nur dominierende faschistische Elemente enthält, trug zur Niederlage der Arbeiterbewegung 1933 bei. Deshalb war die Errichtung der demokratischen Republik nach 1945 die Hauptlosung als Schlußfolgerung aus dem Faschismus, und unter dieser Losung einigten sich die Antifaschistinnen und Antifaschisten vieler Richtungen in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes.

Die Verteidigung der Grundrechte und des Grundgesetzes gehörten und gehören zu den Wesensmerkmalen der Politik und Praxis des Antifaschismus. Das schließt Kapitalismuskritik der Antifaschisten nicht aus, setzt sie aber nicht voraus. Deshalb forderten ich und Freunde von mir den bayerischen Verfassungsschutz und den Innenminister öffentlich und in Briefen wiederholt auf, die diffamierenden Behauptungen über mich und die VVN sowie meine namentliche Nennung im Verfassungsschutzbericht und im Portal über »Linksextremismus« zu löschen. Eine Antwort blieb aus. Nun klagt die VVN-BdA Bayern gegen das Land. Es gibt ein Stasi-Unterlagen-Gesetz, aber keins über die Gestapo-Unterlagen.  Stattdessen beschloß der Bundestag schon bald nach BRD-Gründung 1951 ein Gesetz zum Artikel 131 des Grundgesetzes, das vorsah, die im Rahmen der Entnazifizierung entlassenen Beamten möglichst wieder beim Staat einzustellen, wobei sie sogar den jungen Hochschulabsolventen vorgezogen wurden.

Aus dem Jahr 1966 stammt ein Gutachten eines der höchsten 131er und Nazi-Mediziners, Hans Bürger-Prinz, der nach dem Krieg in Hamburg der allein zuständige Gutachter in Wiedergutmachungsfällen war. Er bescheinigte meinem Schwiegervater, daß ihm keine Entschädigung zukomme, denn »der Kläger nahm die Risiken einer Verfolgung im Sinne einer mehr oder weniger bewußt gewählten Selbstbewährung im Einsatz für die Idee auf sich, unterscheidet sich darin also gegenüber der unausweichlich Situationen eines rassisch Verfolgten«. Der Kommunist Artur Burmester war also selbst schuld, er hätte den Widerstand unterlassen sollen, dann hätten ihm die Nazis nichts angetan. Dabei wird in dem Gutachten durchaus deutlich, wie der Junge gelitten hat, der bereits 1933 mit 17 Jahren in die Fänge der Gestapo geriet und insgesamt dreieinhalb Jahre Haft und »Bewährungseinheit 999« sowie Zwangsarbeit durchlitt. In der Haft wurde er mißhandelt, getreten, gefoltert, um »Geständnisse« von ihm zu erzwingen. Die Täter wurden nicht bestraft, sie hatten nach 1945 ein Recht auf Weiterbeschäftigung. Die Organisation des Artur Burmester war die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Sie war in Hamburg in den fünfziger/sechziger Jahren verboten, so auch in einigen anderen Bundesländern.

Der frühere Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) hatte zu Zeiten der Großen Koalition eine Verordnung erlassen, daß Organisationen, die im Verfassungsschutzbericht auch nur eines Bundeslandes stehen, in allen Bundesländern keinen Gemeinnützigkeitsstatus haben sollen. Angeblich sollte sich das gegen Nazis richten, es wird jedoch auch gegen Linke praktiziert. Wer der VVN-BdA angehört, soll mit schweren Nachteilen rechnen. Es werden wieder Zustände wie im Kalten Krieg hergestellt. Es gilt, die geplanten Maßnahmen gegen die VVN-BdA zu verhindern.

Im Kalten Krieg wurde die VVN gespalten. Es erschienen sozialdemokratische und bürgerliche Verfolgtenverbände auf der politischen Bühne. Die Reste dieser Verbände haben sich in einer Vereinigung zusammengeschlossen. Deren Zeitschrift habe ich vor zwei Jahren den folgenden Brief geschrieben, der leider nie beantwortet wurde.

Sehr geehrte Redaktion von „Gegen Vergessen – für Demokratie“!

Schon seit 1985 existiert von Allan Merson das Buch „Kommunistischer Widerstand in Nazideutschland“ in englischer Sprache. Erst 1998 kam das Buch bei Pahl-Rugenstein in Bonn in deutscher Sprache heraus, und nun habe ich es mal wieder zur Hand genommen. Peter Gingold schrieb dazu ein zu Herzen gehendes Vorwort: Er habe an der nationalen Befreiungsbewegung des französischen Volkes, der Résistance, teilgenommen, die tief eingebettet im Volk und getragen von ihm handeln konnte. Daher ermesse er es als besonders tragisch, wie die Widerständler in Deutschland „hoffnungslos isoliert“ gewesen waren.

Diese Einsamkeit setzte sich nach 1945 fort, und viele „Kinder des Widerstandes“, die Hinterbliebenen jener, die sich gegen den Faschismus in Deutschland erhoben, bekamen sie zu spüren. Wir haben eine Gruppe dieses Namens gebildet. Wenn Sie möchten, berichte ich Ihnen darüber.

Das Buch des britischen Historikers Prof. Allan Merson ist wissenschaftlich akribisch und voll kritischer Bewertung aber auch liebevoller Parteinahme geschrieben. Fehler der Partei, in der viele unserer Eltern und Großeltern wirkten, werden eben als Fehler bewertet und nicht als vorsätzliche stalinistische Entartungen, wie es derzeit gern dargestellt wird. Verdienste werden ebenso gewürdigt wie auch der uneigennützige Kampf. Von 300.000 Parteimitgliedern Anfang 1932 wurden von 1933 bis 1945 150.000 eingekerkert und 30.000 ermordet. Bei Jürgen Zarusky (Hg.) vom Institut für Zeitgeschichte im Buch "Widerstand als Hochverrat" (Verlag K.G.Saur, 792 Seiten, 1998) erfahren wir:

"Politisch motivierter Widerstand war ... zu 75 % kommunistischer, zu 10 % sozialdemokratischer und nur zu 3 % christlich-bürgerlicher Widerstand." (…)

1956 wurde die KPD erneut verboten, und es wurden mindestens 250.000 Verfahren gegen des Kommunismus verdächtige Bürger durchgeführt, 10.000 wurden oft langjährig eingesperrt. Tausende erhielten Berufsverbot.

Wir haben als Verwandte der Betroffenen die Gruppe "Kinder des Widerstandes" gegründet, um an das Unrecht, das man unseren Eltern und Großeltern antat, zu erinnern und sie wenigstens in der Erinnerungsarbeit zu würdigen. Vielen unserer Eltern und Großeltern hielt man in Prozessen der Adenauerzeit vor, sie seien uneinsichtig, denn sie wären doch schon nach 1933 vorbestraft gewesen und hätten nichts dazu gelernt. Die solches sagten, waren oft schon Richter und Staatsanwälte in der Zeit 1933-1945.

Manche von uns klagen derzeit gegen den bayerischen Verfassungsschutz, weil der die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten unter dem Gesamtbegriff „Extremismus“ mit Nazis und Neonazis auf eine Stufe stellt. Die VVN-BdA kommt vom Widerstand her. Und der war doch vielfach links. Was soll der Vorwurf des „linken Extremismus“ bedeuten, wenn dieser auf große Teile des Widerstandes und seiner Hinterbliebenen angewendet wird? Verleumdet nicht der VS den Widerstand gegen die Nazis und rechtfertigt er nicht den Faschismus mit seiner Darstellung im VS-Bericht? Knüpft er nicht an jene Justiz an, die nach 1950 kommunistische Widerständler oftmals verurteilte und sich sogar auf die Urteile der Nazis gegen den Widerstand berief?

Peter Gingold schrieb: „Der Faschismus wäre eine Sache der hoffnungslosen Verzweiflung, wenn es nicht diesen kommunistischen Widerstand gegeben hätte, den es von Anfang 1933 an gab und nicht erst, als offensichtlich wurde, daß Hitlers Niederlage besiegelt war, diesen Widerstand mit dem Opfertod von Zehntausenden, diesen Widerstand, der trotz verheerender Einbrüche nie zum Erliegen kam. An der Gefängnismauer im Stadtteil Preungesheim in Frankfurt am Main, hinter der die Guillotine stand, die Hinrichtungsstätte von Hunderten Nazigegnern, steht ein Spruch der Schriftstellerin Ricarda Huch. Der erste Satz lautet: ‚Ihr, die das Leben gabt für des Volkes Freiheit und Ehre - Nicht erhob sich das Volk, Euch Freiheit und Leben zu retten...’ Dieser Satz sagt so viel aus über das Heroische und Tragische des deutschen Widerstandes.“

Erinnert sei an den ersten und bedeutungsvollen authentischen Widerstandsroman von Anna Seghers „Das siebte Kreuz“. Von den sieben Entflohenen aus dem KZ Osthofen (Anna Seghers nennt es verfremdet Westhofen), gelang es nur einem, als er über die Grenze in die Niederlande gebracht werden konnte, zu entkommen. Die Übrigen wurden kurz nach ihrer Flucht wieder eingefangen, kaum möglich Unterschlupf zu finden, und hingen dann an den für sie aufgestellten Kreuzen, bis auf das siebte.“

Peter Gingold nennt den Unterschied zwischen dem Widerstand in Deutschland und jenem in den besetzten Ländern: „Mußte doch der Widerständler in Deutschland dafür eintreten, daß Hitler den Krieg verliert, also im Bewußtsein der großen Masse der Deutschen ein Landesverräter und Volksfeind sein, wogegen der Widerständler in den okkupierten Ländern, der ja für die nationale Befreiung seines Landes von der Okkupation kämpfte, als Patriot hochgeachtet wurde.“

In seiner Einführung schreibt Allan Merson: ‚Warum waren die Widerständler nicht in der Lage, einen Vorteil aus dem Scheitern und der endgültigen Niederlage des Naziregimes zu ziehen und sich selbst an die Spitze einer breiten allgemeinen patriotischen Bewegung zu setzen, wie es in Italien geschehen ist?‘

Auf diese Frage wird sicher die Beschäftigung mit der Geschichte der Kriegsendphase eine Auskunft geben, die sich 2015 zum 70. Mal jährt. Diese Phase war besonders gekennzeichnet von der hasserfüllten Mittäterschaft vieler deutscher Bürger, die glaubten, der von Goebbels angekündigten angeblichen Rache der deutschen und ausländischen Antifaschisten zuvorkommen zu sollen. So kamen noch mindestens 700.000 Menschen auf Todesmärschen ums Leben – und die da mordeten, das waren nicht nur SS-Leute. Nein, das Volk hat sich nicht erhoben, Freiheit und Leben zu retten derer, die ihr Leben gaben, um Leben zu retten, auch nicht als Millionen deutscher Soldaten fielen, die deutschen Städte sich in Trümmerlandschaften verwandelten, worin Millionen der Zivilbevölkerung den Tod fanden. Darin besteht die Tragik des deutschen Widerstandes, was auch vieles in der gesamten Nachkriegsgeschichte Deutschlands, ja sogar Europas erklärbar macht. Nicht nur, daß der Volksaufstand gegen die Nazis ausblieb, auch die Nachkriegsentwicklung – mit der unsere Generation es zu tun hatte – war vielfach geprägt von jenem Hass auf unsere Eltern und Großeltern mit dem wir aufwuchsen. Dennoch bleibt unbegreiflich, wieso nur in unserem Land die Kommunisten derartig diskriminiert und ausgegrenzt werden, wie es in keinem anderen Land möglich ist.

Der von Hitler propagierte Antikommunismus war offenbar weiterhin tief verwurzelt geblieben. Davon war sogar die Entschädigungspolitik beeinflußt. Das Bundesentschädigungsgesetz sah einen Passus vor, der jenen die Wiedergutmachung raubte, die sich angeblich gegen die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ gewandt hätten, was man vielen unserer Eltern und Großeltern vorwarf.  

Warum schreibe ich Ihnen all dies? Ich kenne Sie nicht und die von Ihnen gepflegte Antitotalitarismuspolitik (nicht Antifaschismus) sagte  mir verständlicherweise nie zu. Nun kam mir ihr Septemberheft ‚Für Demokratie‘ in die Hand, und es ermutigte mich. Die Geschichte der deutsch-griechischen Beziehungen in dem Heft veranlaßt mich, ihnen einfach mal zu danken. Das, was sie schreiben, haben wir von 2002 bis 2008 in zahllosen Aktionen gegen die Traditionspflege der Bundeswehr, die in unerhörter antigriechischer Form in den Alpen zum Himmel schreit, auch zum Ausdruck gebracht. Um die Unterlagen, die wir recherchiert hatten, einzusammeln, wurde ein Untersuchungsverfahren mit Hausdurchsuchungen und Diffamierungen auch gegen meine Person seitens der Behörden gestartet. Der Prof. Argyris Sfoundouris, den Sie auf Seite 8 vorstellen, der schrieb mir: Das darfst Du ihnen nie verzeihen, und ich habe es auch nicht getan.

Vielleicht überlegt sich Ihre Redaktion auch einmal, ob nicht über die deutschen Kinder des Widerstandes auch einmal in Ihrem Heft berichtet werden sollte. Sie sollten damit nicht solange warten wie im Falle der griechischen Freunde.

Liebe Freundinnen und Freunde,

ihr habt auf dem Flugblatt zu dieser Veranstaltung die wichtigsten aktuelle Aufgaben des Antifaschismus niedergeschrieben. Ich stimme diesen zu. Besonders unterstreichen möchte ich die Aussagen zur AfD. Eine ähnliche Lage wie heute gab es in den 60er Jahren. Es wurde die NPD bekämpft, die einen ähnlichen Aufstieg hatte wie heute die AfD. Ja, 1969 drohte Einzug der NPD in den Bundestag wie heute bei AfD. Verhinderung der NPD war ein historischer Sieg, die ganze Geschichte wäre anders verlaufen, wenn dieser Sieg nicht errungen worden wäre.

Der Bundeskongreß der VVN im Juli 1969 hatte die Hauptlosung „Die Einigung der demokratischen Kräfte versperrt der NPD den Weg in den Bundestag“ herausgegeben. Denn das war die CDU/CSU-Politik:

Viele ihrer Politiker, die Massenmedien, Radio-, Fernsehen und Presse der BRD beruhigten das erschreckte Volk. Sie verbreiteten Berichte des Bundesinnenministeriums, das die rechte Gefahr verharmloste, und die „Hoffnung" aussprach, „daß es den demokratischen Kräften in der NPD“ gelingen möge, „die Partei in eine zwar nationalkonservative, aber doch der freiheitlichen Grundordnung unserer Verfassung verpflichtete Richtung zu führen.“

Die Wirtschaftsgewaltigen und reaktionären Kräfte in der BRD betrachteten die NPD bereits als Reserve für den Fall, daß die große Koalition auseinanderbreche.

F.J. Strauß erklärte 1967 als Minister der großen Koalition, „daß eine Koalition mit der NPD nicht für alle Zeiten ausgeschlossen” sei.

Der Bundeskanzler Kiesinger hatte laut Berliner Morgenpost vom 28.2.1967 selbst die NPD ins Spiel gebracht, als er über die Bundestagswahlen 1969 äußerte, daß, „falls keine der großen Parteien die absolute Mehrheit erringt, eine kleine Koalition, jedoch mit der NPD möglich“ sei.

Auch jetzt hören wir wieder Stimmen, die von einem Arrangement der Union mit der AfD sprechen. Die AfD-Vorsitzende stellte nach den letzten Wahlen zufrieden fest: Es gibt wieder eine bürgerliche Mehrheit. Kommt die AfD in den Bundestag, dann wird es auf lange Zeit keine Regierungsbeteiligung der SPD, Grünen und LINKEN geben. Dann kann die Reaktion durchregieren. Wir stehen also vor großen Herausforderungen.

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Fakten aus der VVN-Geschichte

Material zum Vortrag Ulrich Sanders bei der Hamburger VVN-BdA 9.4.16

Zahlen

12.000 Verfolgte wurden zunächst 1945 in Hamburg gezählt; 1947 = 22.800 Personen haben Anerkennung beantragt.

50.000 wählten 1946 in NRW die Delegierten für VVN-Gründungskonferenz.

250.000 1947 in ganz Deutschland (192.000 in Westdeutschland), Quelle: Zonenkonferenz der VVN in Hannover, Seite 35, damals 200.000 Mitglieder der VVN.

Lt. VVN-Info-Dienst vom April 1948: Nur 300.000 überlebten die Haft. (Kommentar der VVN: Kaum ein Potential an Wählern.)

Entlarvung

Zitat S. 47 + 59 Stobwasser-Buch

Die sozialdemokratische Zeitung „Die Freiheit" in Mainz vom 6. Januar 1960 beurteilt die Lage wie folgt: „... so ist doch niemand anders als Adenauer selbst verantwortlich dafür, daß ehemalige aktive Nationalsozialisten führende Stellungen in seiner Regierung einnehmen und sogar Kabinettsmitglieder werden konnten ... So konnte jenes schwüle politische Klima entstehen, in dem jetzt das Unkraut antisemitischer und nationalistischer Umtriebe wuchert.“

VAN entlarvt Altnazis

In Hamburg waren ca. 20 frühere SS-Offiziere deren Tätigkeit meistens im Osteinsatz bestanden hatte, und deren Mitgliedsnummern der Nazipartei den Behörden bekannt waren, als hohe Polizeioffiziere, meistens bis zur Pensionierung im Amt.

In einem Brief der VAN an den damaligen Innensenator Helmut Schmidt wurden die Namen, Funktionen und Mitgliedsnummern in der NSDAP mitgeteilt. Auch die Hamburger Außenstelle der zentralen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen mit Sitz in Ludwigsburg erhielt diese Daten. Beide Stellen haben darauf nicht reagiert.

Der Hamburger Chef der Gestapo und SS-Offizier Streckenbach arbeitete z.B. unbehelligt als Wirtschaftsmanager bei der Firma Ottenser Eisenwerke. Er ist für unzählige Morde in Hamburg und im späteren Osteinsatz verantwortlich.

Die Aufmärsche der SS und Traditionsverbände nahmen von Jahr zu Jahr zu. Jahrelang marschierten regelmäßig in der Stadt Schleswig, im Land Schleswig-Holstein die SS-Verbände zu Kameradschaftstreffen auf und Hamburger und Schleswig-Holsteiner Antifaschisten protestierten auf den Straßen, während im Saal die Vertreter von Staat und Ländern diese faschistischen Veranstaltungen begrüßten.

Über 50 Juristen, die als Richter und Staatsanwälte an Sondergerichten die Terror-Urteile beantragten bzw. fällten, waren im Hamburger Justizwesen tätig.

Während sich die Unterdrückungsmaßnahmen gegen die VVN verstärkten, entwickelte sich im Kampf um die Legalität der VVN eine zunehmende Solidarität demokratischer Kreise in der Bundesrepublik, besonders aber auch aus den anderen europäischen Ländern.

S. 23 Fiete Schulze / Zitat Heinemann S. 80

… 34 Jahre später, am 20.7.1969, verlas der Bundespräsident Dr. Gustav Heinemann anläßlich seiner Gedenkrede zum 20. Juli in Berlin-Plötzensee den Brief Fiete Schulzes an seine Schwester:

„Du haderst mit den Verhältnissen, die Dir den Bruder nehmen. Warum willst Du nicht verstehen, daß ich dafür sterbe, daß viele nicht mehr einen frühen und gewaltsamen Tod zu sterben brauchen? Noch ist es nicht so, doch hilft mein Leben und Sterben es bessern.“

Diese Rede, die der Bundespräsident „Das Vermächtnis Fiete Schulzes" nannte, schließt mit den Worten:

„Solches Vermächtnis stellt uns vor die immerwährende Aufgabe des demokratischen Rechtsstaates. Die Widerstandskämpfer, die nur mit einem Anschein von Justiz einfach niedergemacht wurden, fragen uns, ob wir gegen antidemokratische Geistesrichtungen immun bleiben, ob wir den Geist der ruhigen Vernunft in der Politik bewahren, ob wir Recht und Gerechtigkeit gegen Jedermann obwalten lassen.“

Gegen Neonazismus

Es wurde die NPD bekämpft, die jenen Aufstieg hatte wie heute die AfD. 1969 drohte Einzug der NPD in den Bundestag wie heute bei AfD.

Ab S. 65, vor allem Seite 70: Verhinderung der NPD ein historischer Sieg, die ganze Geschichte wäre anders verlaufen, siehe Strauß- und Kiesinger-Zitate Seite 66.

Der Bundeskongreß der VVN im Juli 1969 hatte die Hauptlosung „Die Einigung der demokratischen Kräfte versperrt der NPD den Weg in den Bundestag“ herausgegeben. Diese klare Einschätzung der NPD förderte die Arbeit in Hamburg.

Alle Veranstaltungen, Gedenkfeiern, Infostände und Diskussionen waren geprägt von der Mobilisierung der Öffentlichkeit gegen NPD und Neonazismus.

Hunderttausende von jungen Menschen haben zusammen mit den alten Widerstandskämpfern in allen Städten und Ländern der BRD in hervorragender Weise den demokratischen Staat gegen die organisierten Rechtskräfte verteidigt. Sie haben die Losung der VVN wahrgemacht und 1969 der NPD den Weg in den Bundestag versperrt.

Damit war eine Wende in der Deutschland-Politik erzwungen, die Große Koalition konnte nach dem Willen der Wähler nicht mehr fortgesetzt werden. Zum ersten Mal seit 1948 war die CDU/CSU von der Regierungstätigkeit im Bonner Bundeshaus ausgeschaltet.

Heute ist es offensichtlich, daß es ohne diese Zurückdrängung der NPD keine Regierung Brandt/Scheel gegeben hätte, auch keine Politik der Entspannung.

Denn das war die CDU/CSU-Politik:

Die Massenmedien, Radio-, Fernsehen und Presse der BRD beruhigten das erschreckte Volk. Sie verbreiteten Berichte des Bundesinnenministeriums, das die rechte Gefahr verharmloste, und die „Hoffnung" aussprach, „daß es den demokratischen Kräften in der NPD“ gelingen möge, „die Partei in eine zwar nationalkonservative, aber doch der freiheitlichen Grundordnung unserer Verfassung verpflichtete Richtung zu führen.“

Die Wirtschaftsgewaltigen und reaktionären Kräfte in der BRD betrachteten die NPD bereits als Reserve für den Fall, daß die große Koalition auseinanderbreche.

F.J. Strauß erklärte 1967 als Minister der großen Koalition, „daß eine Koalition mit der NPD nicht für alle Zeiten ausgeschlossen” sei.

Der Bundeskanzler Kiesinger hatte laut Berliner Morgenpost vom 28.2.1967 selbst die NPD ins Spiel gebracht, als er über die Bundestagswahlen 1969 äußerte, daß, „falls keine der großen Parteien die absolute Mehrheit erringt, eine kleine Koalition, jedoch mit der NPD möglich“ sei.

Die großen Kundgebungen, Gegendemonstrationen, Verhinderung der Aufmärsche der Neonazis waren überall mit Schlägereien der militanten Neonazis verbunden. Es nutzte nichts: Antifaschisten erzwangen z.B in Duisburg, daß die NPD eine geplante Kundgebung absagen mußte. Der sozialdemokratische Polizeipräsident von Duisburg, Jürgensen, urteilte daraufhin in einer Presseerklärung vom 2.10.1969:

„Wenn die Mittel und Methoden auch nicht immer zu billigen waren, so haben die meist jugendlichen Gegendemonstranten doch das Verdienst, den Bürgern unseres Landes die Gefahr des Rechtsradikalismus sehr deutlich vor Augen geführt zu haben. Wo andere von politischer Auseinandersetzung nur geredet haben, haben sie gehandelt. Unsere Jugend müßte ja geradezu seelisch krank sein, wenn sie nach all den Erfahrungen, die wir in Deutschland mit einem extremen Nationalsozialismus gemacht haben, nicht leidenschaftlich gegen das Aufkommen eines neuen Nationalismus eintreten würde ...“

Wenn es gelungen ist, die NPD unter 5% zu halten, dann soll man sich bei denen bedanken, die nicht müde wurden, den wahren Charakter der NPD aufzuzeigen und zu diesem Zweck auch auf die Straße zu gehen.

Die Nationaldemokratische Partei (NPD), eine neofaschistische Organisation, von alten Nazis gegründet und geführt, gefördert von den reaktionären Kräften in der BRDhatte 1965 bei den Bundestagswahlen 2% der Stimmen erhalten. Die Landtagswahlen 1966 brachten dieser neofaschistischen Partei einen beträchtlichen Stimmenzuwachs.

Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, politische Rechtsentwicklung, verbunden mit weiteren Einschränkungen demokratischer Rechte und Freiheiten, erhöhter Aufrüstung und die Einsetzung Nazi-Kiesingers zum Bundeskanzler, hatten der NPD diesen rapiden Aufstieg verschafft.

Sie konnte Wahlerfolge von durchschnittlich 8%, zum Teil bis 10% erzielen. 48 NPD-Ab- geordnete gab es bereits in 6 von 10 Landtagen, 179 Abgeordnete in Kreis-und Gemeindeparlamenten.

Weiterer Kampf gegen die NPD

Seite 109: Große NPD-Kundgebung August 1976 verhindert, aber die dazu gehörige Intern. Kundgebung nicht.

Losung: Kongress der nationalen Kräfte Europa „Kampf gegen den Kommunismus - gegen die Unterwanderung Europas durch farbige Völker“

1.800 in- und ausländische Faschisten wurden in Hamburg erwartet, als Redner wurden angekündigt Vertreter der faschistischen Organisation M.S.L., die in Italien eine Anzahl politischer Morde beging, ebenso der Terrorist und Bombenleger Burger aus Österreich.

Außer dem Kampf gegen Kommunisten und „farbige Völker" forderten sie ein wieder zu errichtendes „Deutsches Reich von der Maaß bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ als Modell in Europa.

Vorgesehen war eine Großveranstaltung, die vorbereitet werden sollte durch einen Aktionstag mit 26 Infoständen, vier öffentliche Veranstaltungen in den Stadtteilen und mehrere Demonstrationen im Stadtgebiet.

Noch zum Antikapitalismus der VVN-BdA

Es wenig antikapitalistische Aktionen, eigentlich gar keine. Aber neue Verfolgung der Anhtinazis.

Siehe dazu mein Referat und meinen Ossietzky-Beitrag.

Jedoch Hinweise auf Ahlener Programm CDU (Der Kapitalismus ist den Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.)

Potsdamer Abkommen Seite 20:

Nach vielen kontroversen Diskussionen einigten sich die Großmächte auf die Prinzipien ihrer künftigen Politik in Deutschland. Hauptpunkte dieses Abkommens waren:

  • Deutschland ist als wirtschaftliche Einheit zu behandeln
  • sofortige Einrichtung zentraler deutscher Verwaltungsstellen für Finanzen, Transport, Außenhandel und Industrie
  • Entnazifizierung, Auflösung aller Naziorganisationen, Verbot jeder Neugründung und Nachfolgeorganisation
  • Entmilitarisierung, kein neuer Militarismus, keine Politik der Gewalt
  • Entmonopolisierung, keine Zusammenballung der wirtschaftlichen Macht in wenigen Händen, um die Politik zu bestimmen

In diesen Festlegungen wurden prinzipielle Wünsche der Antifaschisten berücksichtigt.

Ausnahme SPD. Schumachers Losung war: „Sozialismus als Tagesaufgabe". Die KPD hatte hingegen keine umstürzlerischen Forderungen, sie verlangte die demokratische Republik mit alle Rechten für das Volk.

Adenauers beachtliche Rede aus jener Zeit:

Der spätere Bundeskanzler Dr. Adenauer im März 1946 in der Aula der Kölner Universität: „Die größte Aufmerksamkeit werden wir der Ausmerzung des nationalsozialistischen, militaristischen Geistes in Deutschland widmen müssen. Die aktiven Nationalsozialisten und die aktiven Militaristen, die für den Krieg und seine Verlängerung Verantwortlichen, dazu gehören insbesondere auch gewisse Wirtschaftsführer, müssen aus ihren Stellen entfernt werden. Sie müssen je nach Lage des Falles, von deutschen Gerichten gestraft, ihr Vermögen muß ganz oder teilweise beschlagnahmt werden. Das Elend, das sie über Deutschland, über die ganze Welt gebracht haben, schreit zum Himmel.“

Die SPD, wie gesagt, irritierte mit „Sozialismus als Tagesaufgabe“ S. 14

Der Name „Sozialistische Freie Gewerkschaft“ (vorübergehender Vorschlag) ist wahrscheinlich entstanden, weil in dieser Zeit, von hohen SPD-Funktionären initiiert, das Thema „Sozialismus als Tagesaufgabe" in Arbeiterkreisen diskutiert wurde.

Ehemalige Mitglieder aus KPD und SPD führten Besprechungen durch und entwickelten ein gemeinsames Hamburger Aktionsprogramm.

Das vorliegende Protokoll von der Besprechung des Komitees mit den Vertretern der Parteien und Organisationen gibt Auskunft über gemeinsame Festlegungen.

Doch dann Spaltung und Unvereinbarkeit/später Berufsverbot 6.5.1948

Am 1.8.51 wurde die WN-Hamburg durch die SPD-geführte Hamburger Polizei verboten.

Ab 19.9.50: VVN-Mitglieder wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt.

Aber 131-Gesetz, das den ehemaligen Nazis wieder den Weg in den öffentlichen Dienst ebnete.

Verbot der Ostkontakte. Wirkte sich besonders gegen die Jugend aus.

Gute Rolle der Geschwister Scholl Jugend.

Siehe Heft aus 1988 „Verdrängte Schuld ..." Opfer des Kalten Krieges bis zum heutigen Tag.

Geschichtsforschung

Zur Geschichtsforschung und -vermittlung: Arbeit an der Broschürenreihe mit dem Arbeitstitel „Jugend im antifaschistischen Widerstand", die Aufnahme von Forschungsarbeiten in den Stadtteilen und die Herausgabe neuer Literatur in Hamburg.

Hervorzuheben sind die neuen Wege, die in der Geschichtsvermittlung begangen wurden.

Mit der Herausgabe des „Illustrierten Stadtführers zu den Stätten der Hamburger Arbeiterbewegung und des antifaschistischen Widerstandes" (1975) organisierte die VVN zusammen mit der Ernst-Thälmann-Gedenkstätte die ersten Rundfahrten zu den Stätten des Widerstandes und des Nazi-Terrors.

Diese Rundfahrten fanden bei der Jugend großen Anklang und nahmen immer größeren Umfang an.

Sie wurden im Jahr 1978 durch die Einbeziehung der Gedenkstätte Neuengamme erweitert und mit dem Hamburger Stadtjugendring als „Alternative Stadtrundfahrten" fortgeführt. Sie entwickelten sich zu einer beachtlichen und beliebten Form der Geschichtsvermittlung.

Die Verlegung von Großkundgebungen gegen neonazistische Umtriebe und Aufmärsche an historische Stätten (Altonaer Blutsonntag - Juden-Getto Hamburg - Schule Bullenhuser Damm) verdeutlichte eindrucksvoll und nachhaltig die Grausamkeit der nazistischen Gewaltherrschaft. Das Bewußtsein, selbst am Tatort scheußlicher Verbrechen zu weilen, wirkte sich bei den Teilnehmern aus und beeinflußte auch die Beziehungen zum heutigen antifaschistischen Kampf, so Kam. Stobwasser.

Beispiel: Veranstaltung Schule am Bullenhuser Damm

Nach der Delegiertenkonferenz im Februar 1979 stand die Durchführung der seit längerer Zeit vorbereiteten Großveranstaltungen zum Kindermord in der Schule Bullenhuser Damm an. Es mußte endlich gelingen, die Wahrheit über dieses grausame Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes der Hamburger Bevölkerung und der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik stärker ins Bewußtsein zu bringen.

Die Vertreter der VVN - Bund der Antifaschisten und der Arbeitsgemeinschaft Neuengamme in der Antifaschistischen Initiative in Hamburg nutzten ihre Beziehungen zu ausländischen Verfolgtenorganisationen, um dieser Veranstaltung eine internationale Bedeutung zu geben. Es wurden Überlebende der Angehörigen der ermordeten Kinder ermittelt und eingeladen. Ebenso Teilnehmer bzw. Ankläger aus dem Curiohaus-Prozeß in Hamburg sowie Delegationen aus den Vereinigungen ehemaliger Opfer des Faschismus im Ausland.

Im Aufruf zu einer Willenskundgebung, der von tausenden Bürgern der verschiedensten politischen Richtungen und Glaubensbekenntnisse unterzeichnet wurde, waren die Hauptforderungen:

  • für Fortführung der Politik der Entspannung und Friedenssicherung,
  • für Rüstungsstopp und Einleitung konkreter Abrüstungsmaßnahmen,
  • gegen Berufsverbote,
  • gegen jede weitere Einschränkung der staatsbürgerlichen Rechte und Freiheiten.

Der Bundeskongreß betonte die Verbundenheit mit der jungen Generation durch die Verabschiedung eines eindringlichen Appells an die Jugend, ihre Zukunft selbst zu bestimmen.

Das Orientierungs- und Aktionsprogramm der VVN - Bund der Antifaschisten wurde überarbeitet und die wichtigsten Aufgaben im Kampf um Abrüstung und Demokratisierung in allen Lebensbereichen im einzelnen formuliert.

Die geplante SS-Provokation zum 30. Jahrestag der Befreiung wurde verhindert

In Hamburg plante die HIAG, eine Zusammenfassung der ehemaligen SS-Divisionen, als Gegenmaßnahme zum 30. Jahrestag der Befreiung eine große faschistische Aktion am 9. und 10. Mai 1975 in Hamburg.

Zwei Dinge sind den antifaschistischen Kräften in den Jahren 1969 bis 1972 gelungen:

1. Sie haben die NPD als offen auftretende neonazistische Partei entlarvt, in dem sie den Nachweis führten, daß es sich nicht um eine demokratische Partei, sondern um einen Zusammenschluß alter und neuer Nazis handelte. Dadurch wurde sie daran gehindert, Masseneinfluß zu erlangen.

2. Sie haben den Charakter der CDU/CSU als Sammelbecken aller reaktionären Elemente in der Bundesrepublik nachgewiesen.

Wirtschaftskrise, Rechtsgefahr, Neonazismus und Arbeitslosigkeit konnten nur in gewaltigen Anstrengungen aller demokratischen, fortschrittlichen Kräfte innerhalb und außerhalb der Regierung und des Parlaments Schritt um Schritt zurückgedrängt und bewältigt werden.

Anhang: Erfolgreich gegen einen IG Farben-Nachfolger

Prozess gegen Farbenfabriken Bayer AG

Prozess gegen Farbenfabriken Bayer AG (aus dem Stobwasser-Buch von 1983):

Am 3.2.1965 verteilte die VAN Hamburg das Bildflugblatt „Verjährung für S-Gewaltverbrechen? Urteilen Sie selbst!"

In Wort und Bild werden darin die scheußlichen Mordverbrechen aufgezeichnet und begründet, daß es eine Verjährung dieser Verbrechen nicht geben darf. Es war eine Kampfschrift in der damaligen Verjährungsdebatte gegen diejenigen, die nach 20 Jahren die NS-Mordverbrechen als verjährt betrachtet wissen wollten und eine dementsprechende gesetzliche Regelung anstrebten.

Unter einem Bild, das Kinder im KZ zeigte, stand folgender Text:

„lm Aufträge von Konzernen und Firmen, wie zum Beispiel Bayer, wurden von SS-Ärzten verbrecherische Versuche an Häftlingen vorgenommen, um die Wirkung chemischer Mittel auszuprobieren. Doktor Mengele machte Versuche an Zwillingen.“

Bereits am 5. Februar erwirkte die Firma Farbenfabriken Bayer AG, Leverkusen, vertreten durch den Vorstand Dr. Hansen und Dr. Silcher, eine einstweilige Verfügung beim Landgericht Hamburg, „der Dringlichkeit wegen“ ohne vorherige Verhandlung. Der schriftliche Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung datiert erst vom 6.2.1965. Durch diese einstweilige Verfügung wurde der VAN bzw. den verantwortlichen Personen bei Androhung einer Geldstrafe in unbeschränkter Höhe oder einer Haftstrafe bis zu sechs Monaten verboten, den Namen „Bayer" im Zusammenhang mit der obengenannten Behauptung zu erwähnen, bzw. verlangt, bei weiterer Verbreitung des Flugblattes den Namen „Bayer" dauerhaft unkenntlich zu machen.

Gegen diese Verfügung erhob die VAN Widerspruch beim Landgericht Hamburg. Sie führte als Beweismittel im Prozeß ein:

  1. Das Buch „KL Auschwitz" herausgegeben vom Internationalen Auschwitz-Komitee.
  2. Das Buch „Macht ohne Moral" von Raimund Schnabel.
  3. Das Buch „Auschwitz — Zeugnisse und Berichte —" Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main.
  4. 225 Fotokopien von Urkunden aus Nürnberger NS-Verbrecher-Prozessen.

Die Gegenseite, die Farbenfabriken Bayer AG, beantragte den Widerspruch gegen die Verfügung des Landgerichts am 5.2. zurückzuweisen.

Zur Begründung ihres Antrages führten sie einen von fünf Anwälten erarbeiteten Schriftsatz von 39 Seiten ein, um zu beweisen, daß die im Jahre 1952 gegründeten Farbenfabriken „Bayer AG" keine Aufträge an die SS gegeben haben könnten.

Das Landgericht Hamburg lehnte es am 26.5.1965 in seinem Urteil ab, den Argumenten der Farbenfabriken zu folgen. Es hob die „einstweilige Verfügung" gegen die VVN auf.

In der Urteilsbegründung heißt es, daß die einstweilige Verfügung aufgehoben werden müsse, „weil die im Flugblatt aufgestellte Behauptung nach der aus dem Vortrag beider Parteien gewonnen Überzeugung wahr ist“. Die Versuche an Häftlingen seien Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es wird weiter gesagt, bei dem Urteil des Landgerichts Hamburg handele es sich lediglich um die Prüfung der Behauptung der VAN, „… im Auftrage von Konzernen und Firmen, wie z.B. Bayer, wurden von SS-Ärzten verbrecherische Versuche an Häftlingen vorgenommen“ - nur darüber konnte in dem Urteil entschieden werden.

Die Bayer AG legte gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg beim Oberlandesgericht Hamburg Berufung ein (28. Juli 1965).

Die fünf Anwälte der Firma, Dr. v. Metzler, Dr. K. Abendroth, Martin Luther, Dr. E. Jahn und Werner Hofer haben in umfangreichen Schriftsätzen ihre Berufung vor dem Oberlandesgericht begründet.

Die VAN antwortete mit immer neuen Dokumenten aus den Bayer-Betrieben, die sich der Bayer-Konzern in der Nazizeit angeeignet hatte und die sich auf dem Boden der Deutschen Demokratischen Republik befinden.

In der Berufungsverhandlung vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht am 26. Mai 1966 versuchte es die Firma mit einem Vergleichsvorschlag. Die VAN sollte schriftlich erklären, daß sie in ihrem Flugblatt die „Farbenfabriken Bayer AG" nicht gemeint habe, dann würden sie ihre Berufung zurücknehmen.

Die VAN hat diesen Vergleich abgelehnt.

Der heutige Konzern Bayer AG ist entstanden aus dem alten Chemiekonzern „I.G. Farbenindustrie AG". Er ist ein Ergebnis der Entflechtungsbestimmungen der Alliierten und dem Verlust von Betrieben im Osten. Bis auf die Abschreibung der verlustig gegangenen Betriebe hat der Konzern nur den Namen etwas geändert, denn die Kernbetriebe und Forschungsstätten in Leverkusen sind ihm unverändert geblieben. Der Name „Bayer” als Firmenzeichnen wurde genauso beibehalten wie leitende Direktoren des alten Konzerns. In den Schriftsätzen an das Gericht wurde sinngemäß die Behauptung aufgestellt, es sei eine ganz neue Firma, die mit dem alten Konzern überhaupt nichts zu tun habe. Für die im Flugblatt der VAN aufgedeckten Verbrechen sei nicht die heutige „Bayer AG" sondern die getilgte Firma „Bayer“ verantwortlich.

Die aufgestellte Behauptung der VAN sei aber geeignet, den Kredit der Firma zu gefährden und sonstige Nachteile wirtschaftlicher Art für sie herbeizuführen. In ihrer gewerblichen Betätigung seien sie innerhalb und außerhalb Deutschlands besonders verletzbar, denn wie gerichtsbekannt ist, sind ihre vertriebenen pharmazeutischen Mittel praktisch in den Händen von jedermann.

In all den Schriftsätzen der Bayer AG findet sich kaum ein Wort des Bedauerns der Versuche an Häftlingen und Kindern. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die damit verbundenen Todesopfer spielen bei ihren Begründungen überhaupt keine Rolle, im Gegenteil, die Opfer werden noch verhöhnt, wie folgende Formulierungen beweisen.

Zu der Überlassung weiterer Präparate an den SS-Arzt Dr. Vetter wird erklärt:

(Schriftsatz 17. Mai 1965, Seite 38/39)

„Dr. König glaubte, diesen Wunsch nicht ablehnen zu können, obwohl er aus den in den Krankenblättern vermerkten Körpergewichten den Schluß zog, daß die Behandlung nicht an SS-Mannschaften vorgenommen war. Aus Gewissensgründen glaubte Dr. König, den Häftlingen die Hilfe durch beide Präparate nicht versagen zu können.“

Weil die wissenschaftliche Abteilung von der Wirksamkeit ihrer Präparate überzeugt war, glaubten die Herren in Leverkusen, (Schriftsatz vom 28. Juli 1965, Seite 27) „... es nicht verantworten zu können, Doktor Vetter zur Behandlung von Häftlingen solche Präparate verweigern zu dürfen. Professor Dr. Hörlein entschied: Ach Martens, schicken Sie den armen Menschen die Präparate weiter ...“

Obwohl diesen Herren die unzähligen Todesopfer bei den Versuchen bekannt waren, lassen sie scheinheilig versichern, (Schriftsatz vom 9.11.1965, Seite 11) „kein Häftling hat zu irgendeiner Zeit sich gegen diese erfolgreichen Tbc-Behandlungen gewandt“.

Als endlich der Termin der Verhandlung und Urteilsverkündung festgelegt war, zog die Firma ihre Berufung einige Tage vor dem Termin zurück. Damit war das Urteil des Landgerichts Hamburg rechtskräftig.

Das Hamburger Landgericht hat als einziges Gericht in der BRD in seinem Urteil gegen die Bayer AG, diesen großen Konzern wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Das ist eine mutige und verdienstvolle Handlung. Im Urteil wird klar und deutlich ausgedrückt, daß allein die Beteiligung an den verbrecherischen Häftlingsversuchen Gegenstand dieses Verfahrens war und die VAN-Behauptungen den Tatsachen entsprechen.

Für den Vorstand der VAN war die Zurücknahme der Berufung des Bayer-Konzerns beim Oberlandesgericht eine große Erleichterung.

Es waren kritische Stimmen laut geworden, die auf die Bedeutung des Bayer-Konzerns und seine Verbindungen zu den höchsten Stellen hinwiesen. Es wurde bezweifelt, daß die VAN erfolgreich sein könnte.

Sie müsse eher mit einer großen Schadensersatzsumme rechnen. In den Schriftsätzen der Anwälte wurde schon auf große wirtschaftliche Schäden hingewiesen.

Es kam jedoch anders.

Es erwies sich einmal mehr, daß durch offensives Auftreten der VAN Erfolge zu erzielen waren. Nicht die wirtschaftliche Macht des Großkonzerns hatte dieses Verfahren gewonnen, sondern die von Antifaschisten öffentlich vorgetragene historische Wahrheit.

(Anmerkung: VAN, d.i. Vereinigte Arbeitsgemeinschaft der Naziverfolgten, so nannte sich die VVN Hamburg in der Zeit ihres Verbots.)