11.09.2016
Sozialrichter Jan-Robert von
Renesse half ehemaligen Ghettoarbeitern
Kampf um
Ghettorenten: Wie ein Richter seine Karriere ruinierte - Am 13.
September wird gegen ihn verhandelt
Am 13. September wird im Fall Jan-Robert von
Renesse verhandelt. Er hatte für Sklavenarbeiter der deutschen
Wirtschaft Renten herausgeholt. Die nordrhein-westfälische
Justiz nahm ihm dies übel. Nachstehend ein Bericht des
Bayerischen Rundfunks, darunter eine Erklärung von Serge und
Beate Klarsfeld zum Fall.
Kampf um
Ghettorenten: Wie ein Richter seine Karriere ruinierte
Sozialrichter Jan-Robert von Renesse hat
ehemaligen Ghettoarbeitern zu Rentenzahlungen verholfen. Für
Holocaustopfer ist er ein Held. Doch seine eigene Karriere hat er
darüber ruiniert - er muss sich vor einem Dienstgericht
verantworten.
Jan Robert von Renesse kämpft seit Jahren
für angemessene Entschädigungen der Ghettoopfer - und
wird jetzt selbst angeklagt. Vor dem Dienstgericht in
Düsseldorf geht es dem Nordrhein-Westfälischen
Justizministerium um Renesses Kritik an der Justiz.
"Ein
Richter muss bei der Wahrheit bleiben. Und wir werfen ihm vor, dass er
das nicht getan haben soll, indem er der
nordrheinwestfälischen Justiz vorgeworfen hat, dass
sie Absprachen und Anordnungen trifft, die zum Nachteil der
Holocaustüberlebenden gewirkt haben und insofern den Richtern
Rechtsbruch vorwirft. Das ist so nicht richtig, das kann die Justiz
so nicht stehen lassen."
Marcus Strunk,
stellv. Pressesprecher NRW-Justizministerium
Kampf um Ghettorenten: "Schreiendes Unrecht"
Das Disziplinarverfahren ist der
Höhepunkt eines über Jahre schwelenden Konflikts
zwischen Richter Renesse und dem nordrhein-westfälischen
Justizministerium. Es begann damit, dass Renesse
Ghettorentenanträge aus Israel anders verhandelte als damals
in Deutschland üblich.
"Das
Schlimmste war, dass man sie nicht persönlich
angehört hat. Ich habe gelernt, als ich Richter wurde, sagte
mir mein Präsident: Machen Sie Ihre Gerichtsverfahren so, als
wäre die Klägerin Ihre eigene Großmutter.
Wenn ich mir vorstellen würde, meine Großmutter
klagt auf Rente und kriegt höchstens einen
Fragebogen zugeschickt und kann sich nie persönlich, direkt
von Angesicht zu Angesicht, äußern und ihr Leid
klagen - dann würde ich sagen, das ist ein schreiendes Unrecht"
Jan-Robert von
Renesse, Sozialrichter in Essen
Ein Unrecht, das nach Renesses Meinung hausgemacht
ist. Rente gibt es in Deutschland nur für freiwillige und
bezahlte Arbeit. Um eine Rente zu bekommen mussten
Holocaustüberlebende anhand von Fragebögen beweisen,
dass sie freiwillig gearbeitet hatten und dafür eine
Entlohnung bekamen - und wenn es nur ein Stück Brot war. Doch
von den 88.000 Ghetto-Arbeitern, die die Rente beantragt hatten,
konnten nur die wenigsten einen solchen Beweis erbringen.
Besonders schwer hatten es die israelischen
Antragsteller in dem für sie zuständigen Land
Nordrhein-Westfalen. Ihre Anträge wurden zu über 90
Prozent abgelehnt. Eine Klage vor Gericht hatte kaum Erfolg. Denn die
zuständigen Richter urteilten meist ausschließlich
nach Aktenlage.
Persönliche Anhörungen in Israel
Anders Richter Renesse. Statt nach Aktenlage zu
urteilen, reiste der Richter zusammen mit Historikern und
Rentenkassenvertretern nach Israel und hörte die ehemaligen
Ghettoarbeiter an. Acht mal war Renesse in Israel, rund 120
Antragsteller besuchte er und ließ sich von ihrer Arbeit in
Nazi-Ghettos erzählen. Renesses Anerkennungsquote lag deutlich
höher als bei seinen Richterkollegen: Während bei ihm
jeder sechste Antragssteller seine Rente durchbekam, war das bei den
anderen nur bei jedem zehnten der Fall.
Renesses unkonventionelle Methoden sorgten
für Unruhe in der Justiz. Doch sein ungewöhnlicher
Ansatz wurde 2009 vom Bundessozialgericht Kassel bestätigt.
Das Gericht urteilte in seinem Sinne: dass nämlich fortan jede
Beschäftigung als freiwillige Arbeit eingestuft werden sollte,
bei der ein Antragsteller zwischen Arbeit und Hungertod entscheiden
musste. Und zum "Entgelt" gehörten eben auch Brot oder Suppe.
Die Folge: Alle abgelehnten Anträge sollten
überprüft werden.
Der Richter wird zum Rebell
Doch es kam zu Verzögerungen. Rentenkasse
und Justiz in Nordrhein-Westfalen vereinbarten ein Moratorium, die
Klagen sollten ein halbes Jahr nicht bearbeitet werden. Richter Renesse
wurde zum Rebell und bearbeitete seine Fälle weiter. Er
stößt auf Widerstand und wird 2010
endgültig von den Ghettorentenfällen abgezogen.
2012, nach über drei Jahren Streit,
wendet sich Renesse mit einer Petition an den Bundestag. Er fordert
eine längere rückwirkende Zahlung der Ghettorenten
und prangert die Zustände in der
nordrhein-westfälischen Justiz an. Dieser politische Schritt
war es, der den Ghettorentnern am Ende Gerechtigkeit verschaffen
sollte. Die Karriere des Richters aber besiegelt.
Wegen der Vorwürfe gegen die Justiz muss
er sich vor einem Richterdienstgericht verantworten. Renesse bietet
sein Schweigen an, weicht in der Sache aber nicht zurück.
"Ich
würde die Sache beenden und für immer meinen Mund
halten. Soweit werde ich gehen. Was ich nicht kann: Ich kann nicht
sagen, ich habe etwas falsches getan."
Richter
Jan-Robert von Renesse
"Von Vorgesetzten zusammengestaucht und gemobbt"
Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen, in der
Sache aber hat Richter Jan-Robert von Renesse einen historischen Erfolg
errungen. Auf seine Petition hin verabschiedete der Deutsche Bundestag
2014 ein neues, großzügigeres Ghettorentengesetz.
Bei der Verabschiedung des Gesetzes brachte die Linken-Abgeordnete Ulla
Jelpke im Bundestag auch die Causa Renesse zur Sprache.
"Ich
möchte an der Stelle namentlich den Sozialrichter Jan Robert
von Renesse nennen, der schon früh erkannt hatte, dass die
Formulare der Rentenkasse dem Schicksal der NS Opfer nicht gerecht
wurden. Dafür wurde er von seinen Vorgesetzten
zusammengestaucht, gemobbt und auch von diesen Fällen
abgezogen. Gedankt wurde ihm nur von den Überlebenden."
Ulla Jelpke,
Linken-Abgeordnete im Bundestag
In Israel wird Renesse wie ein Held verehrt. Er
wurde von Staatspräsident Simon Peres empfangen, sprach als
erster deutscher Richter vor der Knesset. Das Verfahren gegen ihn in
Deutschland stößt dort auf Unverständnis.
"Um
ehrlich zu sein, wir sind schockiert. Der Mann, der den
Holocaust-Überlebenden geholfen hat, wird jetzt für
seine guten Taten vor Gericht gestellt. Wissen Sie, was das verursacht
für das Image von Deutschland?"
Colette Avital,
Vorsitzende der israelischen Dachorganisation der
Schoa-Überlebenden
Aus Bayerischem Rundfunk Von: Julia Smilga Stand:
30.04.2016,
http://www.br.de/nachrichten/ghettorente-richter-renesse-102.html
Serge und
Beate Klarsfeld zum Fall Renesse - Aus einem Schreiben an Ulrich Sander:
Auch heute zeigt sich die Justiz wieder von einer
Seite, wo sie einen von Renesse verurteilen kann, der sich für
die Ghettoarbeiter in ihrer Not der eingesetzt hat. Ich schicke Ihnen
unseren Artikel, ich weiß nicht, ob er
veröffentlicht wird. Serge und ich haben das Schreiben an
Hannelore Kraft unterzeichnet. Die Entscheidung soll in
Düsseldorf am 13. September fallen.
Herzliche Grüße
Beate Klarsfeld
Wir hatten keine Gelegenheit, die 240 Seiten
umfassende Klageschrift gegen Richter Jan-Robert von Renesse zu lesen.
Es handelt sich offenbar um ein komplexes Dossier, das –
sollte es zur Sanktionierung führen – in die
Geschichte als eine Verurteilung der nordrheinwestfälischen,
ja der deutschen Justiz, eingehen wird. Wie ungeschickt, welch ein
Mangel an Takt und Einfühlungsvermögen, gegen einen
Justizbeamten vorzugehen, der sich in
außergewöhnlicher Weise dafür eingesetzt
hat, das Schicksal derjenigen zum Besseren zu wenden, die Opfer der
Grausamkeit und Habgier ihrer Schergen waren.
Die Arbeitskraft der jüdischen
Ghettoarbeiter wurde durch das Dritte Reich und seine Handlanger aus
der Industrie ausgebeutet. Die überlebenden Ghettoarbeiter
haben einen Rechtsanspruch auf ihre Altersrenten nach dem ZRBG
erworben; ebenso wie die große Mehrheit all jener
Ghettohäftlinge, deren Arbeitskraft ausgebeutet wurde und die
die Schoah nicht überlebt haben.
Wie viele Ghettoarbeiter haben bis heute
überlebt? Einige werden im gleichen Alter oder nur
unwesentlich jünger sein als ihre Aufseher in den Lagern. Wenn
die deutsche Justiz das Recht beansprucht, die Schergen einer Strafe
zuzuführen, steht es ihr auch zu, den Opfern für ihre
Arbeit Rentenzahlungen zuzusprechen. Die Leiden wie die Verbrechen
können nach subjektiven Kriterien ausgelegt werden. Anders als
zum Beispiel die Aussetzung der Antragsbearbeitung durch die
Rentenversicherer über mehr als sechs Monate hat die Empathie,
mit der Jan-Robert von Renesse gehandelt hat, Schaden von den
Überlebenden abgewendet.
Um die von krassen Missverständnissen,
Fehlentscheidungen und Ungerechtigkeiten geprägte Entwicklung
des ZRBG doch noch zu einem würdigen Abschluss vor der
Geschichte zu bringen, müssen nicht nur alle noch offenen
Anträge ehemaliger Ghettoarbeiter schnellstmöglich
erledigt werden, sondern es muss auch jede Maßregelung des
Richters von Renesse unterbleiben: Seine tiefgreifende
Auseinandersetzung mit den Schicksalen jenes unerbittlichen Universums
hat ihm schlicht und einfach Zugänge verschafft, die seinen
Kollegen offenbar verschlossen blieben.
Serge und Beate Klarsfeld
Aus Paris 10.09.16
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